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„Das normale abstrakte Denken verwandelt sich in ein bildhaftes“

■ Die Bildhauerin Dorothea Buck vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) über ihre eigenen Psychose-Erlebnisse

taz: Was passiert, wenn man verrückt wird?

Dorothea Buck: Ich vergleiche immer die Psychose mit dem Traum. Das normale abstrakte Denken verwandelt sich in ein bildhaftes. Man spürt überall Sinnzusammenhänge, ohne sie erklären zu können.

Wie muß ich mir das vorstellen?

Ich schildere Ihnen ein Beispiel. Im Jahre 1959 kam zum erstenmal eine Farbzusammenstellung von Grün und Violett in den Stoffmustern auf den Markt. Grün ist die Farbe der Natur. Violett ist die Farbe der evangelischen Kirchenfahne. In der evangelischen Kirche aber spielte die Natur, die Schöpfung früher eine ganz geringe Rolle. Ich habe diese Farbzusammenstellung von Grün und Violett daher als ein Zeichen einer kommenden geistigen Entwicklung gesehen. Was mir in meinem ersten Schub so wichtig war, die Einbeziehung der Schöpfung, der Natur in unser Gottesbild, nahmen die Stoffdesigner gewissermaßen vorweg.

Über Farbsymbolik denken viele Künstler nach. Warum kamen Sie in eine Klinik?

Ich hatte in meinem ersten Schub eine symbolische Geburt vollzogen. Wir wohnten damals auf einer Insel, und in mir brach ein starker Impuls aus, der drängte mich an diesem Abend, in die Dünen hinauszugehen. Dann erlebte ich zum erstenmal in der Nacht den Aufgang des Morgensterns. Das war mir wie ein Wunder. Ich bin diesem Stern nachgegangen. Ich schwamm durch einen Priel, immer auf der Spur des Morgensterns. Der Stern verblaßte, als ich den Priel durchschwommen hatte. Dann habe ich mich ganz in den Schlick versenkt, ich empfand das als Geburt, gleichzeitig als Tod, als Sterben. Dann verblaßte auch der Mond, und ich sah auf den Leuchtturm, der neben unserem Haus stand. Das Wasser in dem Priel war verschwunden. Ich war völlig erschöpft, auch durch die Kälte. Dann sah ich noch einmal zurück und dann verlor ich das Bewußtsein. Arbeiter haben mich dann gefunden.

Kann man seine Handlungen noch steuern, wenn man verrückt wird?

Verwirrend ist im ersten Schub, daß sich das Weltgefühl verändert. Deshalb gewinnen die Symbole diese Glaubwürdigkeit. Man würde nie in normalem Zustand das Symbol so wichtig nehmen, daß man überhaupt gar nicht anders kann als in Symbolen zu denken, nach Symbolen zu handeln. Aber auch die Symbole sind doch Fundamente menschlichen Seins. Früher sind die Menschen damit groß geworden. In unserer Zeit ist das alles weg. Und nun bricht das alles wieder auf und man ist völlig allein damit.

Haben Sie sich rückblickend denn als verrückt empfunden?

Nach meinem Schub war ich sehr verunsichert, während meiner Schübe aber überhaupt nicht. Das ist schwierig, das anderen Menschen zu vermitteln. Ich hatte das Gefühl, es ist alles anders, als wir es gelernt haben. Erstmal, daß der Stern aufging – ich wußte ja nicht, daß er das jeden Abend tut. Ich glaubte, nur ich hätte nichts davon gewußt, daß in unserer Welt heute noch Wunder geschehen. Ich habe das als starke Impulse erlebt, die sich dann bei einer nicht-medikamentösen Unterdrückung in einen leisen Instinkt zurückbildeten. Das war für mich entscheidend, weil ich dadurch merkte, daß es aus mir selber kam.

Kann sich ein Psychotiker anderen Menschen mitteilen?

Wenn er das versucht, wird er gleich als Spinner abgestempelt. Und dann wird er davon lassen. Man weiß ja selber, daß es sich vom normalen Denken unterscheidet, deshalb hält man es ja für eingegeben. Und in der Psychiatrie fehlt so sehr stark die Offenheit. Da heißt es dann: „Überlassen Sie das nur uns.“ Dann wird man hingehalten. Wenn jemand fragt, ob er bald entlassen wird, dann heißt es: Ja kein Widerspruch zu den psychotischen Vorstellungen des Patienten. Ich finde es besser, man ist klar und offen und sagt: „Ich kann das so nicht sehen, aber ich akzeptiere, daß du das so siehst.“ Aber unsere Gesellschaft ist rauher und härter geworden in den vergangenen beiden Jahrzehnten. „Spinner“ fallen einfach heraus.

Was müßte sich in der Psychiatrie selbst ändern?

Vor allem wäre es wichtig, daß die Psychiater selbst mehr interessiert sind an den Inhalten der Psychose. Die Psychiatrie gibt sich ja als Erfahrungswissenschaft aus. Aber es sind nicht die Erfahrungen der Patienten, die da einbezogen werden, sondern die Beobachtungen der Psychiater. Wir wollen eine Psychiatrie, die auf den Erfahrungen der Patienten gründet. Erst dann kann sie eine empirische Erfahrungswissenschaft werden.

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