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Gut ist besser als wichtig

Der Stiefel und sein Socken bringen das Gleichgewicht ins Wanken – Herbert Achternbusch, nicht Botho Strauß erhält den Mülheimer Dramatikerpreis  ■ Von Gerhard Preußer

Die letzte Vorstellung war die beste. Die öffentliche Jurydiskussion übertraf alle vorangegangenen Inszenierungen des Mülheimer Stückewettbewerbs an Spannung, Emotionalität und organisatorischem Dilettantismus. Welche andere Aufführung hätte das Publikum bis zwei Uhr nachts im Saale halten können? Welche andere Aufführung hätte solche Wut- und Begeisterungsausbrüche bei den Zuschauern auslösen können? Welches Theater hätte es sich leisten können, 20.000 Mark zu verpulvern, ohne genau zu wissen, zu welchen Bedingungen?

Nachdem im letzten Jahr die erstmals öffentliche Preisfindungsdiskussion zu einer müden Talkshow geraten war, hatte man in diesem Jahr durch eine durchdachte Besetzung der Jury vorgesorgt: Franz Wille von Theater heute, der scharfe Denker mit dem schnellen Griff zum Mikrophon, als Protagonist, Karl Baratta vom Frankfurter Schauspiel, die galante Silberzunge unter den deutschen Dramaturgen, als dessen erfahrener Vertrauter, Sigrid Löffler, fernseherprobt und immer gut für ein giftiges Adjektiv, als maliziöse Gegenspielerin, Reinhardt Stumm, der Kritikerfürst aus Basel, als alter Querkopf und für die reinen, hochherzigen Frauenrollen Cornelia Schmaus, Schauspielerin aus Ostberlin, und Elfriede Müller, die immer-noch-nicht-ganz-erfolgreiche Theaterautorin aus Oberhausen.

Nach einer langen Exposition kam das auslösende Moment, als die erste Abstimmung der Jury 3 zu 2 zu 1 für Achternbuschs „Der Stiefel und sein Socken“ gegen Botho Strauß' „Das Gleichgewicht“ und Dea Lohers „Leviathan“ ergab und die Publikumsstimme für Oliver Bukowskis Komödie „Londn-L.Ä.-Lübbenau“ gewertet wurde. Da das Reglement vorsieht, daß der Preis nur mit absoluter Mehrheit vergeben werden kann, war ein weiterer Wahlgang nötig, in dem Reinhardt Stumm sich für Botho Strauß statt Dea Loher entschied. Damit war die Peripetie erreicht, der Weg in die Katastrophe unvermeidlich. Was bei Stimmengleichheit der Jury, ohne daß die Publikumsstimme den Ausschlag geben könnte, zu tun sei, wußte niemand. Es folgten furchtlose nächtliche Debatten über den Auszählungsmodus der Publikumsstimme (an zweiter Stelle bei der Auszählung der Publikumsstimmen nach herkömmlichem Modus lag Achternbuschs Stück), bis schließlich Franz Wille sich opferte, als gereifter jugendlicher Held den Weg des Kompromisses ging und sein Votum zugunsten Achternbuschs abänderte. Erschöpft wurden ein paar Urkunden überreicht, Verbeugung, Beifall, Schluß der Vorstellung.

Die Jurydiskussion der Öffentlichkeit auszusetzen hat Folgen. Der Entscheidungsprozeß muß dann den Gesetzen der Dramaturgie und dem Zwang zur Selbstdarstellung der Juroren folgen, und das ist nicht immer der Verlauf, den der Prozeß unter dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes nehmen würde. Mit dem einen Publikumsliebling war die Jury schnell fertig: Oliver Bukowskis „Londn-L.Ä.-Lübbenau“ wurde als zu kabarettistisch abgetan. Die Hoffnung, daß die darin aufgeblasenen Ossi-Klischees auch zum Platzen gebracht würden, teilte kaum einer der Juroren. Bukowskis Sympathie für seine Mit-Ossis beschränkte sich auf einen allzu abrupten Schluß. Die Verzweiflung hinter der manischen West-Anpassung des Ost- Ehepaares wird durch den aufgesetzten Selbstmordschluß nur behauptet, nie aber spürbar. „Denunziationsqualität“ nannte Sigrid Löffler die Güteklasse dieses Ost- Produkts.

Die beiden historisch-politischen Stücke der diesjährigen Auswahl wurden aus komplementären Gründen verworfen. Dea Lohers „Leviathan“ als zu artifiziell, Robert Schneiders „Traum und Trauer des jungen H.“ als zu kunstlos. Die Dramatisierung der Entstehung der RAF in „Leviathan“ wurde als „harmlose Kinderetüde“ (Baratta) über ein großes Thema abgetan, Schneiders Passionsspiel über Hitlers Jugend als trivialpsychologischer Erklärungsversuch zurückgewiesen. Ebenfalls fast widerspruchslos wurde das formal avancierteste Stück, „Cham“ von Michael Roes, beiseite gelegt. Es hat seinen Ausgangspunkt in der Konfrontation Pier Paolo Pasolinis mit seinem Mörder. Die Abkehr von der Erzähldramatik wurde dem Stück zwar als Ehrgeiz angerechnet, die mythenbesoffene Hermetik dieses Schwulenstücks schien jedoch keiner der Juroren wirklich durchdringen zu können. Etwas länger hielt man sich auf bei einer Verbeugung vor Tankred Dorst, dem Routinier, dem mit „Herr Paul“ eine kräftige, enigmatische Theaterfigur gelungen sei. Letztlich einigte man sich aber auf das Verdikt „zu konstruiert“.

Blieben noch die zwei etablierten Großmeister der Dramatikerzunft, Achternbusch und Strauß. Achternbuschs „Der Stiefel und sein Socken“, ein poetisch-surreales Traumspiel über ein alterndes Paar, war in Mülheim in einer exzellenten, von Christa Berndl und Michael Altmann mit kongenialer, wirrer Lockerheit gespielten Inszenierung des Hamburger Schauspielhauses zu sehen und eroberte sich so die Zustimmung des Publikums. Botho Strauß' Stück über das schwierige private und öffentliche „Gleichgwicht“ im wiedervereinigten Deutschland wurde in einer miserablen Aufführung des Mannheimer Staatstheaters gezeigt und fiel beim Publikum durch, nicht jedoch bei der Jury. Dort wurde ihm angerechnet, daß es versuche, die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen. Die Frauen der Jury lehnten dennoch Strauß geschlossen ab (Löffler: „reines Kunstgewerbe, wichtigtuerisch kraftlos, geschwätzig“) und stimmten sämtlich für Achternbusch (Elfriede Müller: „abgründig und bitter, sensibel und grotesk“), weil er zeige, wie man leben soll und kann. Somit war die Kontroverse bei einem klassischen Gegensatz angelangt: hie privates Glück, dort öffentliche Wohlfahrt. Für Achternbusch wurde Beckett als Maßstab herangezogen, für Strauß die Weltlage. Karl Baratta versuchte seine Kriterien aus der Beschreibung der Lage des Theaters zu gewinnen: Angesichts des Wahnwitzes der Welt sei ein Text, der auf seinem eigenen Wahnwitz bestehe, nicht so wichtig. Das Theater habe auch praktische Aufgaben. Nach Geschmackskriterien sei Achternbuschs Text der beste, Botho Strauß' Text aber, trotz seiner Schwächen, sei wichtiger. Die Frauen bestanden darauf, Achternbusch stehe ihnen „näher“. Wo die Diskussion erst hätte beginnen müssen, wurde sie durch Zeitdruck, Publikumsunmut und Abstimmungschaos abgebrochen.

Die Diagnose des Subjektzerfalls ist beiden Stücken ganz gemeinsam. „Da sitze ich nun schon ich weiß nicht das wievielte Jahr, und auf eineml sehe ich was mit einem Auge. Einen Stiefel und einen Socken und weiß nicht, wer ich bin. Fühl ich mich zum Socken hingezogen, fehlt mir der Stiefel. Möcht ich den Stiefel tragen, bräucht ich auch den Socken“, heißt es bei Achternbusch. Lilly Groth erhebt den vermessenen Anspruch, zwei Stiefel und zwei Socken gleichzeitig zu tragen. „Ich wog mit einem Ich zwei Lieben aus, gleich groß, gleich wichtig und unverzichtbar. [...] Ich, eine Person, nicht verrückt und nicht verdorben, hielt zwei Leben aus und trennte sie im Herz, im Kopf, im Leib.“ Botho Strauß' Stück geht sehr wohl um die Frage, wie man leben soll und kann, aber es beharrt darauf, daß die Antwort darauf nicht nur von privaten Verhältnissen abhängt. Mit Botho Strauß' „Das Gleichgewicht“ könnte das Theater ein Stück vom verlorengegangenen Terrain öffentlicher Bedeutsamkeit wieder betreten, mit Achternbuschs „Der Stiefel und sein Socken“ bleibt es stehen und starrt weiter humorvoll und geschmackssicher auf die eigenen Zehen.

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