: Keine Reformfrüchte fürs Land
Unruhen in chinesischen Landregionen / Korrupte Lokalpolitiker verkaufen häufig fruchtbaren Boden an Industrieinvestoren ■ Aus Xie Sheila Tefft
Die Dorffunktionäre in Xie hatten sich gründlich verrechnet. Als sie wertvolles Reisland als Baugrund an eine japanische Werkzeugfabrik verkauften, war für die Bauern das Maß voll. Mit ihren Kindern zogen viertausend Menschen aus ihren ziegelgedeckten Backsteinhäusern zu einem Sitzstreik auf der nahegelegenen Guangzhou-Zhuhai- Überlandstraße.
Die Obrigkeit zögerte nicht: Kaum hatten die Protestierenden eine Stunde lang auf dem Boden gesessen, kamen mehrere hundert Bereitschaftspolizisten und räumten die Straße.
Der Protest erregte die Aufmerksamkeit der städtischen Kader und der Provinzführung, die den korrupten lokalen Parteihäuptling und das Dorfoberhaupt verhafteten und absetzten. Beide hatten mit dem Verkauf an die japanischen Investoren in die eigene Tasche gewirtschaftet. Das war im vergangenen Jahr.
Heute aber brodelt es erneut in Xie, denn die lokalen Funktionäre wurden freigelassen und die Werkzeugfabrik soll noch immer gebaut werden. „Die alten Führer sind abgesetzt worden, und das Dorf hat jetzt eine neue Führung“, sagt der Dorfbewohner He Rubiao. „Aber bisher haben sie noch nicht über das Projekt entschieden. Daher wissen wir nicht, wie die Sache ausgeht.“
Die Empörung in Xie, einem Weiler inmitten des Wirtschaftsboomgebiets Südchinas, ist kein Einzelfall. Auch in anderen Provinzen machen Landbewohner ihrer Empörung über die wirtschaftliche Entwicklung Luft. Im vergangenen Jahr nahmen Verbrechen, Kämpfe, Korruption und Proteste so überhand, daß der offiziellen Presse zufolge die Regierungskontrolle in den ländlichen Gebieten in Gefahr gerät. Das ist keine Marginalie: Drei Viertel der 1,2 Milliarden Chinesen leben außerhalb der Städte.
Ein Artikel in der offiziellen Legal Daily mahnte vor kurzem, der Zusammenbruch der Autorität habe zu Gesetzlosigkeit geführt und einen harten Kern von „Dorfhäuptlingen, Landhäuptlingen, Wasser- und Getreidehäuptlingen“ hervorgebracht, die die knappen Mittel kontrollieren. In 24 untersuchten Provinzen kamen bei über 600 Ausbrüchen von Clangewalt über 100 Menschen ums Leben, mehr als 2.000 wurden verletzt, berichtet die Zeitung. Der Artikel ist ein Hinweis auf die zunehmende Besorgnis der kommunistischen Führung über die Unruhe in ihrer wichtigen bäuerlichen Basis und, wie chinesische und westliche Beobachter meinen, auch auf eine Krise der chinesischen Landwirtschaft.
Früher stützten die Bauern die Führung in Peking
Die Kommunisten kamen vor über vierzig Jahren auf einer Welle bäuerlicher Unterstützung an die Macht. „Wenn die Bauern revoltieren, kennt niemand die Konsequenzen“, meint ein chinesicher Landwirtschaftsexperte.
Noch vor fünfzehn Jahren standen die Bauern in der Vorhut der Marktreformen, die China verwandelten.
Obwohl unter dem Kommunismus Privateigentum an Land verboten ist, konnten die Bauern dank wirtschaftlicher Maßnahmen, die den Kollektivanbau untergruben, Land auf eigene Rechnung bestellen und mit Nebenarbeiten dazuverdienen.
Aber inzwischen gehen die Früchte der Reformen an der Landbevölkerung vorbei. Bei einem Wirtschaftswachstum von 13 Prozent wuchs das durchschnittliche bäuerliche Jahreseinkommen nur um 3,2 Prozent auf 106 US- Dollar – verglichen mit 10,2 Prozent in den Städten, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen 270 Dollar beträgt.
Die schwierigen Bedingungen auf dem Lande haben eine Massenwanderung ausgelöst. Die Bauern ziehen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Städte. Auf dem Lande gibt es nach Zahlen des Landwirtschaftsministeriums über 150 Millionen überschüssige Arbeiter und mehr als 100 Millionen Bauern, die während des Jahres auf Arbeitssuche gehen. Die Zahl der Wanderarbeiter wächst jährlich um 13 Millionen.
Die Wanderungsbewegung ließ weniger Bauern zurück, die das Land bebauen. Im letzten Jahr sank die Fläche des bestellten Landes um zwei Prozent auf 108 Millionen Hektar – weil Bauern andere Arbeiten annahmen und weil die schnelle industrielle Entwicklung fruchtbare Felder vernichtete.
Aufgrund besserer Anbautechniken und ertragreicherer Sorten stieg die Getreideproduktion 1993 dennoch leicht auf über 450 Millionen Tonnen, verkündet das Landwirtschaftsministerium. Aber die Gesamtproduktion konnte die Nachfrage nicht befriedigen. So sah sich das Ministerium bereits zu der Warnung veranlaßt, daß 1994 und 1995 das Getreideangebot aufgrund von Naturkatastrophen, der Abnahme der landwirtschaftlich genutzten Flächen, des niedrigen Ankaufspreises von Getreide und der steigenden Kosten für Saatkorn und Dünger zurückgehen werde.
Tatsächlich ist der Mangel so akut und die Preise sind seit letztem Herbst so steil angestiegen, daß die Regierung Preiskontrollen für ein Dutzend Waren angeordnet hat, deren Preise erst vor einem Jahr freigegeben worden waren. Sie schickt zudem Vorräte mit Sonderzügen in die Mangelgebiete. Die chinesische Presse berichtete über Hamsterkäufe in staatlichen Läden in Peking.
Chinas System für Getreideankauf und -verteilung ist inzwischen so mangelhaft, daß nach Schätzung westlicher Beobachter ein Viertel der nationalen Ernte wegen veralteter Ausrüstung, schlechter Lagerung und der Überlastung des Eisenbahnnetzes verschwendet wird.
Staatliche Hilfen sollen Proteste bremsen
„Die Stabilität des gesamten Landes wird negativ beeinflußt, wenn es Probleme mit dem Reis und dem Gemüse gibt“, warnte kürzlich Präsident Jiang Zemin. Deshalb kündigte die Regierung an, daß die Investitionen in wichtigen Getreide- und Baumwollanbaugebieten gefördert werden solle. Zudem ist die Rede von einem Sicherheitssystem für die Bauern, falls die Getreidepreise unter die Produktionskosten sinken.
Es wird erwartet, daß die Vielfalt willkürlicher Steuern für Bauern zu einem einzigen Steuersystem umstrukturiert wird und die Führung in Peking der freien Entwicklung des Grundstücksmarktes ein Ende macht – besonders in den schnell wachsenden Küstenprovinzen, wo viel Bauernland verlorengeht.
Das System der Haushaltsregistrierung, ein Kernpunkt der zentralen Planungskontrolle, wird laut chinesischen Presseberichten überprüft und könnte abgeschafft werden, wodurch die Bauern mehr wirtschaftliche Freiheit erhalten. Das System ist seit 1956 in Kraft und soll die Wanderung der Bauern in die Städte eindämmen; es weist jedem Chinesen ein bestimmtes Gebiet zu und blockiert seine Bewegungsfreiheit.
Aber alle Maßnahmen können nicht über die Kluft zwischen politischer Führung und Landbevölkerung hinwegtäuschen: Vor kurzem mußten Zehntausende Bauern in der Inlandsprovinz Hunan um Nahrung betteln, nachdem Funktionäre die Notvorräte an Getreide verkauft hatten. In der Provinz Guangdong unterdrückte die Polizei den Protest der Bauern gegen Korruption; die Demonstranten hatten behauptet, man habe ihnen ein angemessenes Entgelt vorenthalten, als die lokalen Funktionäre öffentliche Ländereien an ausländische Investoren verkauft hatten.
In Guangdong sank die Getreideproduktion 1993 um 10 Prozent, und die mit Getreide bebauten Flächen sanken in der Provinz auf den niedrigsten Stand seit 1949, wodurch Getreide aus anderen Provinzen Chinas und aus dem Ausland importiert werden mußte. Die Investitionen in der Landwirtschaft liegen inzwischen bei 7 Prozent der Gesamtsumme, kaum die Hälfte des Standes von 1980. Die Industrieproduktion hingegen nimmt um mehr als 30 Prozent jährlich zu.
In Xie sagen die Bauern, aus der Stadt sei ein Untersuchungsteam gekommen, um ihre Korruptionsvorwürfe zu prüfen, habe aber keine Anklage gegen die lokalen Funktionäre erhoben. „Sie konnten keine Unregelmäßigkeiten entdecken“, sagt Herr He. „Jetzt wissen die Dorfbewohner nicht mehr, an wen sie sich wenden sollen.“
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