„Frau wünscht oft keine Ehe mehr!“

Vor 75 Jahren eröffnete Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaften / Der Kampf gegen Sittenstrenge und Sexualnot und die Reglementierung der Frauen.  ■ Von Kristine von Soden

Berlin in den Goldenen Zwanzigern – die toleranteste Metropole Europas, Herz der kulturellen Avantgarde und Zentrum allgemeiner Experimentierlust. Neugierig blicken hier Frauen mit Bubikopf und sozialistisch inspirierte Intellektuelle hinter die Kulissen einer Sexualmoral, die noch der Staub der wilhelminischen Ära umweht. Lebensfroh und selbstbewußt attackieren sie die Prüderie, brechen mit sexuellen Tabus und rücken der Sittenstrenge zu Leibe – die Losung „Sexualreform“ erblickt das Licht der Welt. Dabei geht es um Ernstes und Kurioses zugleich: um Sexualaufklärung für Schulkinder, Streichung des § 218, freiwillige Sterilisation und kostenlose Behandlung von Geschlechtskrankheiten, aber auch um die Abschaffung der Badehose und die Einführung der Freikörperkultur.

Daß der Funke sexuellen Reformeifers von Berlin ausgeht, hat die Stadt einer Gruppe junger Ärzte zu verdanken, unter ihnen Magnus Hirschfeld, der geradezu universell für die Sexualwissenschaft kämpft. Mit einem mutigen Unternehmen verhilft er schließlich dem neuen Forschungszweig in Berlin zu internationalem Ruf: durch das „Institut für Sexualwissenschaft“. Im Sommer 1919 nimmt dieses seine Arbeit auf – in 115 Räumen samt Angestelltenwohnungen, Küche, Büros. Im ersten Stock residiert der Hausherr. Im zweiten sind Röntgenapparate, Operations- und Untersuchungsräume untergebracht. Außerdem ein gerichtsmedizinischer Dienst und eine eigene Pension, in der sich Wissenschaftler aus dem In- und Ausland einquartieren. Besondere Attraktion: die Bibliothek (seinerzeit die größte sexualwissenschaftliche Sammlung der Welt) und das Sexualmuseum. Hier gab es die verrücktesten Fetische zu sehen, Korsetts und Stöckelschuhe, Bildermappen über Bordelle und eine Kollektion apartester Selbstbefriedigungsapparate. Hirschfelds Institut beherbergt auch die erste Sexualberatungsstelle der Weimarer Republik. Schon im ersten Tätigkeitsjahr werden dreitausend Ratsuchende gezählt.

In den folgenden Jahren steigt die Nachfrage kontinuierlich an. Im Wartezimmer sitzen vor allem junge Frauen, die sich über Verhütungsmittel informieren und die eigens für sie angefertigten Pessare abholen wollen. Dieser kostenlose Service hat einen handfesten Grund: „Gegenstände zu unzüchtigem Gebrauch“, wie Verhütungsmittel im Juristenlatein heißen, liegen zwar in Hülle und Fülle beim Friseur und Drogisten unterm Ladentisch, doch all diese Mittel (hundert machen sich Konkurrenz) sind durchweg nichts als teurer Hokuspokus, von dem lediglich die Pharmaindustrie profitiert. Viele quälen sich deshalb mit Coitus interruptus herum. Und das geht eben oft schief. Ausdruck dieses Dilemmas: Auf eine Million wird die Dunkelziffer der jährlichen Abtreibungen in der Weimarer Republik geschätzt. Der „Schandparagraph“ 218 mit seinen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen treibt die Verzweifelten zu Kurpfuschern. Bittere Bilanz: Jahr für Jahr gehen 50.000 Frauen an den laienhaften Eingriffen zugrunde. Hier Abhilfe zu schaffen und die „Sexualnot“ zu lindern, ist ein Anliegen des Sozialisten Magnus Hirschfeld.

NostalgikerInnen und Weimar- VerklärerInnen seien jedoch gewarnt, Hirschfelds Ärzteteam vorschnell mit feministischen Hymnen zu ehren. Von Anfang an nämlich beabsichtigten die ehrgeizigen Herren, das weibliche Gebärverhalten zu kontrollieren. Einer erklärt 1928 auf einem Fachkongreß: „In unserer Beratungsstelle gehe ich folgendermaßen vor: Zuerst wird die Größe der Scheide durch verschieden große Ringe ausprobiert und dann ein Pessar vom Durchmesser des passenden Ringes eingeführt. In der Sprechstunde lernt die Frau das selbständige Einführen und Herausnehmen des Pessars und bekommt das Pessar mit, um zu Hause weiter zu üben. Am nächsten Tag kommt sie wieder, um die Prüfung abzulegen, ob sie das Pessar richtig und genau einsetzt. Auch damit begnüge ich mich noch nicht, sondern lasse die Frau noch ein weiteres Mal kommen, und sie muß sozusagen zum zweiten Mal die Prüfung bestehen.“

Schon im Vorfeld werden Kandidatinnen aussortiert. Zum einen solche, die ihren Wunsch nach Geburtenregelung weder gesundheitlich noch ökonomisch begründen können; zum anderen unverheiratete. Aus purem Spaß an der Freude sind Pessare, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht vorgesehen. Und das umso weniger, als der Bestand der Gattung Mensch bedroht scheint – eine Vision, angeheizt besonders von Deutschnationalen, der auch das Institut für Sexualwissenschaft erliegt. Die Neue Frau, die rauchend und intelligent im Eiltempo die Gazetten erobert, hat kaum noch Sinn für die heilige Allianz aus Fortpflanzung und Sexualität. Lola Landau auf einer Kundgebung der „Gesellschaft für Sexualreform“ (1928): „Die Neue Frau wünscht oft keine Ehe mehr!“

Hirschfeld und Co. entwerfen auch hier Domestizierungsstrategien. Die Liebhaberqualitäten der Gatten und Heiratskandidaten sollen verbessert werden. Einschlägige Ratgeber werden auf den Markt gebracht – mit Klapptafeln über erogene Zonen, Orgasmuskurven, Mutmachern („Haben Sie keine Hemmungen!“ „Das ist alles ganz normal!“), Tips zur Schlafzimmerbeleuchtung und -temperatur. Der Imperativ ist dabei allseits präsent. Schließlich gibt es im Bett nichts zu lachen.

Das Institut für Sexualwissenschaft bleibt bis zum Ende der Weimarer Republik ein Ort, an dem sich befreiende wie einengende Denkströmungen miteinander verweben. Das ist die Dialektik der Aufklärung. Doch als die Nazis 1933 das Deutschland der Mutterkreuze etablieren, wird nur die emanzipatorische Seite Hirschfelds gesehen. Daß Hirschfeld zudem auch noch jüdisch, homosexuell und sozialistisch ist, schürt die pathologische Wut des SA- Trupps, der bereits Anfang Mai die Einrichtung des Instituts kurz und klein schlägt und große Teile der wertvollen Bibliothek für die Bücherverbrennung auf Lastwagen schleppt. Hirschfeld, der sich in seinem Pariser Exil aufhält, sieht das tragische Ende seines großen Werks zufällig im Kino in einer Wochenschau. Sein spontaner Wunsch: so bald wie möglich etwas Vergleichbares wiederzuerrichten.