: Heiße Sülze in Quedlinburg
■ Und jede Menge panierte Schnitzel – Michael Rutschky reiste im Beitrittsgebiet
Irgendwie ist jedes fremde Land für den Reisenden ein „Reich der Zeichen“. So hat Roland Barthes Japan genannt, das sich dem nicht sprachkundigen gaijin als eine dichtbeschriftete, undurchdringliche Oberfläche darstellte. Mehr oder minder setzt der Reisende sich aber überall dieser Erfahrung aus: Auch wenn er die Zeichen in der Fremde lesen kann, fehlt ihm das nötige Wissen, um sie zu gebrauchen wie die Einheimischen. Anders, als der Alltagsverstand behauptet, setzt das Reisen uns nicht so sehr anderen Menschen und Dingen als vielmehr anderen Zeichensystemen aus. Das Reisen beginnt immer mit einer semiotischen Ohnmachtserfahrung, die allerdings so attraktiv zu sein scheint, daß wir sie immer wieder herzustellen suchen; die Reiseliteratur mindestens seit Marco Polo und Kolumbus handelt von dem heldenhaften Kampf, sie zu überwinden und sich der Zeichen der anderen zu bemächtigen.
Michael Rutschky, als Ethnograph des Inlands bekannt, hat ein Reisebuch geschrieben, das von drei Expeditionen in ein Gebiet handelt, von dem noch gar nicht feststeht, was es eigentlich ist – ein Teil des Inlands, soviel ist klar, jedenfalls nicht. Rutschky nennt es „Beitrittsgebiet“, was in seiner gewollten Steifheit die Sache ganz gut trifft. Die erste Reise findet im November 1989 statt, da gibt es die DDR noch; die zweite 1991, nach vollzogenem Beitritt; die letzte im Sommer 1993. Die Einheimischen, die dem Reisenden zuvor noch interessiert begegneten, wehren sich nun gegen seine Versuche, in ihre Symbolwelten einzudringen. Sie haben ohnehin etwas gegen die Betonung des Zeichenhaften. (Kein Wunder, in ihrem Staat glaubte man per Einheitsdesign einen Sieg des „Zwecks“ über das „Zeichen“ errungen zu haben.) „Da ist nichts, [sagen die Einheimischen] wo ich was zu sehen meine; wo es etwas zu sehen gäbe, bin ich blind. So entsteht die DDR als unverwechselbar eigene Welt im Verschwinden.“ Was sieht der Reisende denn, was die Eingeborenen so wild macht? „Ich betrachte mein Schnitzel. ,Das werden wir euch nie verzeihen, daß wir bei euch noch mal die armseligen Speisen unserer Kindheit genießen dürfen. So etwas ist zu meiner Konfirmation gereicht worden, im Jahr 1957 ...‘“ Die Reisen ins Beitrittsgebiet enden nur allzuoft in der eigenen Vergangenheit. Eine „heiße Sülze“ in Quedlinburg schmeckt nicht so gut wie eine teegetränkte Madeleine in Combray. Aber mit Rutschky auf Reisen läßt sich erfahren, daß ihre mediale Kapazität auch nicht von schlechten Eltern ist. jl
Michael Rutschky: „Unterwegs im Beitrittsgebiet“. Steidl Verlag, 144 Seiten, zahlreiche Fotos, 20 DM
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