Menschwerdung rückwärts

■ Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Robert Coover über Pinocchio und nichtordentliches Schreiben

Der neue Roman des 1932 in Iowa geborenen und heute in Providence Literatur lehrenden Robert Coover zäumt Carlo Collodis hundert Jahre altes Kinderbuch von hinten auf. Pinocchio kommt als alter Mann, als emeritierter Professor einer amerikanischen Universität, als weltberühmter Gelehrter und zweifacher Nobelpreisträger, nach Venedig, um dort sein letztes Buch zu vollenden. Kaum in der zerfallenden Stadt angekommen, begegnet er, schon fast erblindet, den Figuren aus seiner Kindheit als Puppe und erlebt eine Katastrophe nach der anderen: Seine Habe wird gestohlen, er wird beraubt und gequält, in seiner Menschenwürde verletzt und, in Pizzateig eingewickelt, zur Attraktion des Karnevals. Nebenbei verwandelt sich sein Körper immer weiter zu Holz ... Opulente Schilderungen kulinarischer wie sexueller Genüsse sowie ein Anspielungsreichtum, der die gesamte Kulturgeschichte umfaßt, werden in einem ausgeklügelten Romankonstrukt abgefackelt, als gelte es noch einmal zu beweisen, was wir an der literarischen Postmoderne haben, zu deren Vertretern Robert Coover seit gut 30 Jahren gezählt wird.

taz: Mr. Coover, in diesem Jahr ist Ihre Storysammlung „Pricksongs & Descants“ („Schräge Töne“) hier erschienen. Zum ersten Mal ist damit ein Teil ihres Frühwerkes auf deutsch zu lesen. Würden Sie bitte etwas über ihre Anfänge als Schriftsteller erzählen?

Robert Coover: Es gab für mich eigentlich schon in der Schulzeit die Gewißheit, Schriftsteller zu werden. Alles, was ich in dieser Zeit schrieb, war sehr ziellos und festigte sich erst, nachdem ich anfing, intensiv zu lesen. Das war in den 50er Jahren, während meiner Zeit bei der Navy, in der ich auch zum erstenmal nach Europa kam. Als ich zurück in den USA war, spürte ich, daß ich an einer bestimmten Sache arbeiten mußte, und diese Sache hatte etwas zu tun mit der Veränderung von literarischen Strukturen, die sich im Lauf der Literaturgeschichte verfestigt hatten. Ich sah mich als Einzelkämpfer, der zurückgezogen und alleine sein Werk zu vollbringen hat. Erst nachdem ich meine ersten beiden Romane („The Origin of the Brunist“, 1966, „The Universal Baseball Association, J. Henry Waugh, Prop.“, 1968) veröffentlicht hatte, merkte ich, daß ich nicht allein war, daß überall Leute saßen, die sich mit ähnlichen Problemen herumschlugen, in den USA, in Lateinamerika, in Italien, Frankreich, Polen. Obwohl das von heute aus betrachtet wie eine Gruppe oder eine Bewegung aussieht und obwohl insbesondere die US-Amerikaner – John Hawkes, William Gaddis, Donald Barthelme, ich selbst und noch andere – oft in einem Atemzug genannt werden, waren unsere Anfänge unabhängig voneinander. Erst nach Jahren lernte ich manche der anderen persönlich kennen. Es gab, wie gesagt, keinen Ansatz, an dem gemeinsam gearbeitet wurde, aber doch einen Moment in der Geschichte, an dem einzelne an unterschiedlichen Orten etwas gemeinsam verändert und vorangebracht haben.

Darf man Ihren neuen Roman, an dessen Ende der Held im wörtlichen Sinne „verdinglicht“ wird, als Kritik der abendländischen Trennung von Körper und Geist lesen? Als Kritik der damit zusammenhängenden Hierarchie, die den Geist immer über dem Körper plaziert?

Erst mal ist das Buch ja nur eine Variation der Geschichte von Pinocchio. Er wurde in Collodis Buch zum Menschen, und in meinem wird er wieder zur Puppe. Was mich interessierte, war dies: Pinocchio wurde zu Fleisch und Blut, weil er sich bestimmten Vorschriften und Konventionen anpaßte, weil an ihm eine „Erziehung“ erfolgreich abgeschlossen wurde. Er genügte sozusagen einem geistigen Standard und wurde dafür mit dem menschlichen Körper belohnt. Die Hierarchie, die darin sichtbar ist, wird in meinem Buch umgekehrt; Pinocchio kommt als alter Mann in eine gesellschaftliche Situation, in der die Tugenden, die ihn zum Menschen machten, nichts mehr wert sind.

Ein Beispiel für die angesprochene Hierarchie ist eine Szene am Anfang des Romans. Das Buch, das Pinocchio in Venedig fertig schreiben will, ist in seinen verschiedenen Formen – als PC- Festplatte, als Diskette, als mehrfacher Ausdruck, als Korrekturfahne – größer und schwerer als sein Autor.

Sicher. Es ist interessant, wenn Sie diese Szene in diesen großen Zusammenhang stellen. Es kulminiert darin auch die Geschichte der Schrift und ihrer Träger, die neuzeitliche Entwicklung vom Papier zur Diskette. Man kann das durchaus als Großprojektion betrachten: Da ist ein Mensch, ein Intellektueller, der die ganze Geistesgeschichte, die ja ein ständiges Korrekturlesen und Verändern des schon Vorhandenen ist, mit sich herumschleppt und dessen Körper unter der Last zusammenbricht.

Bei den Beschreibungen dieses düsteren, kalten und zerfallenden Venedigs in Ihrem Roman kann man auch an den Zustand Europas denken, wie er sich im Moment darstellt: vorbei die Zeiten von Schutz und Abgeschlossenheit.

Ich muß wieder eine Stufe niedriger anfangen. Meine Schilderungen von Venedig sind sozusagen Tatsachenbeschreibungen: Diese Stadt ist eine Ruine, die Kanäle sind Kloaken. Betrachtet man die Geschichte der Stadt als die Verwirklichung einer bestimmten Idee von Hochkultur, die in der Renaissance ihre Blüte erlebte, geht mit dem ganz konkreten Verfall der Stadt auch diese Idee unter. Meine Beschreibung von Venedig als Ruine taugt aber, glaube ich, nicht als plakative Metapher für den Untergang des Abendlandes.

Aber da gibt es doch alle diese Anspielungen auf Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Und Manns Novelle ist ja von wirklich ernsthaften Sorgen um Europa geprägt. Ihre Verarbeitung seines Textes scheint nun sagen zu wollen, daß gerade diese ernsthaften Sorgen für die jetzige Lage Europas mitverantwortlich waren und sind, weil sie mehr einem intellektuellen Reservat als der politischen Realität galten.

Meine Benutzung von Thomas Mann ist metaphorisch und daher auf verschiedene Weisen lesbar. Der von Ihnen angesprochene politische Gehalt ist in dieser Konkretheit nicht beabsichtigt, klingt aber interessant. Was mir im nachhinein bewußt wurde, ist, daß manche Passagen in dem Buch die aktuelle politische Situation in Italien widerspiegeln oder sogar antizipieren. Was man aber auch nicht vergessen darf: Obwohl ich einen Großteil meines Lebens in Europa verbracht habe und mich mit Geschichte, Sprachen und Literaturen ganz gut auskenne, ist dieses Buch das Buch eines Amerikaners. Und wenn man es, wie Sie es tun, als Metapher für eine untergehendes Europa liest, muß man immer die Projektionen mitdenken, die von der Neuen auf die Alte Welt gemacht werden.

War „Pinocchio“ schon lange eines Ihrer Lieblingsbücher, oder haben Sie es gezielt für die Arbeit an diesem Romanprojekt ausgesucht?

Bekanntgeworden bin ich mit „Pinocchio“ über die Verfilmung. Aber als ich anfing, Collodis Buch zu lesen, spürte ich, daß diese Geschichte etwas ist, mit dem ich arbeiten wollte. Anfangs litt das noch unter den schlechten und gekürzten Übersetzungen, aber ich besorgte mir eine ganz gute aus den zwanziger Jahren, später las ich dann natürlich Collodi im Original. Mich faszinierte von Anfang an die schon angesprochene Ideologie, die sich in der Verknüpfung von Pinocchios Menschwerdung mit seiner Entsprechung bestimmten Erwartungen gegenüber zeigt. Ein damit zusammenhängender Aspekt ist, daß man sich als Leser eigentlich wünscht, daß er kein ordentlicher Junge wird, weil man Spaß an seinen Abenteuern hat, weil man anderen gerne bei etwas zusieht, was man selber nicht darf. Der eigentliche Auslöser, das Buch zu beginnen, läßt sich aber auf eine Begebenheit zurückführen. Bei einem Besuch in Venedig schaute ich mir eine Pinocchio- Ausstellung an, und als ich aus dem Gebäude heraustrat, schneite es, und das erste, was mir auf dem Platz auffiel, war ein Goldoni- Denkmal. Da war alles zusammen: Pinocchio, das miese Wetter und die Tradition der Commedia dell'arte, der mein Roman vieles verdankt.

Wie alle Ihre Romane ist auch dieser sehr ausgefeilt konstruiert. Der durch die Kapiteleinteilung suggerierte feste chronologische Verlauf wird ständig durch Vor- und Rückwärtsbewegungen der Erzählung unterlaufen.

Ich denke, es gibt in diesem Roman zwei inhaltliche Aspekte, die diese „nicht-ordentliche“ Schreibweise bedingen. Einmal ist der alte Pinocchio während der Situationen, denen er in Vendig ausgeliefert ist, gezwungen, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, so daß es in seiner Wahrnehmung ein ständiges Vor und Zurück gibt. Das andere ist der Karneval. Mich interessieren solche Zeiten, die außerhalb der „normalen“ Zeit liegen. In ihnen ist auch eine Umkehrung der in der „normalen“ Zeit üblichen Ordnung möglich. Beim Karneval ist der König Diener und der Diener König, die Frau der Mann, der Mann die Frau.

Interview: Martin Pesch

Robert Coover: „Pinocchio in Venedig“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gerd Burger und Karin Graf. Rowohlt Verlag, 418 Seiten, geb., 48 DM

Robert Coover: „Schräge Töne“. Stories. Aus dem Amerikanischen von Gerd Burger. Rowohlt Verlag, 272 Seiten, geb., 16,90 DM