: Zwischen progressiv und traditionell
■ Als Folge des Kolonialismus entstand in Aden eine Linke
Als sich im Mai 1990 die Arabische Republik Jemen und die Demokratische Volksrepublik Jemen zu einem vereinigten Staat zusammenschlossen, galt dies als Sensation. Doch die Euphorie wich bald der Erkenntnis, daß die Vereinigung äußerlich blieb. Spätestens im August 1993 wurde die Krise zwischen Nord und Süd offensichtlich. Der Parteivorsitzende und stellvertretende jemenitische Ministerpräsident Ali Salim Al Bid zog sich in die ehemalige Hauptstadt des Südens, Aden, zurück. Er boykottierte die Mitarbeit in der Regierung des aus dem Norden stammenden Staatschefs Ali Abdallah Salih. In der Auseinandersetzung trat zutage, daß der Konsens der politischen Identität in der Bevölkerung – die Forderung nach einem staatlich geeinten Jemen – die Gegensätze zwischen Nord und Süd nicht aufwiegen konnte. Zu unterschiedlich verliefen die vergangenen Jahrzehnte im nordwestlichen Bergland des Jemen und dem von den britischen Besatzern so bezeichneten „Südarabien“. Zu tief sitzen gegenseitige Vorurteile. Im Norden hält man die südliche Bevölkerung mit ihrer säkularen Tradition für „Ungläubige“. Und im Süden gelten die Bewohner des Nordens als „rückständig“.
Im seit 1839 britisch besetzten Aden ging die gesellschaftliche Wandlung früher und radikaler vor sich als im vom Kolonialismus verschonten Norden: Großbritanniens imperialen Interessen entsprechend, wurde die Hafenstadt Aden zu einem Industrie- und Handelszentrum ausgebaut. Ab den vierziger Jahren konzentrierte sich hier ein Proletariat, das sich sowohl aus Bewohnern des Umlands zusammensetzte als auch aus Nordjemeniten, zum Teil auch aus von den Briten als Händlerklasse „importierten“ Somalis und Indern. In Aden entstand eine Gewerkschaftsbewegung, die gegen die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfte. Sie entwickelte sich zur maßgeblichen politischen Kraft im Süden, gab sozialistischen Strömungen Raum und bildete die Grundlage jenes antikolonialen Kampfes, der 1967 mit der Unabhängigkeit endete. Die Nationale Befreiungsfront NLF, aus der später die Sozialistische Partei hervorging, entstand 1963 als militante Kampfbewegung. Ihre Aktivisten verstanden es, zum Kampf gegen die britischen Besatzer die Bewohner des südjemenitischen Hinterlandes zu mobilisieren. Die Gewerkschaftsführer und die bürgerliche Opposition in Aden vetraten damals noch einen Regionalismus, der Aden als ein eigenständiges Gebilde ansah. Erst der Zustrom nordjemenitischer Arbeiter und Oppositioneller nach Aden hatte zur Vorstellung eines Gesamtjemen geführt, der von Kolonialismus und religiöser Diktatur befreit sein sollte. Ein jemenitisches „Nationalgefühl“ entstand erst zu Beginn der fünfziger Jahre vor dem Hintergrund der panarabischen, antikolonialen Politik des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el-Nasser. Vorher konnte ein Nationalismus gar nicht entstehen, weil die heute dem Jemen zugerechneten Landesteile seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr einer zentralen Staatsgewalt unterstanden hatten.
Im Verlauf des Kampfes gegen die Briten gewannen in der NLF die marxistischen Kräfte um Abdalfattah Ismail an Gewicht. Nach der Unabhängigkeit konnten sie die Staatsmacht übernehmen. Ismail, dessen Porträts auch noch nach der Vereinigung beider Teilstaaten im Süden zu sehen waren, verfolgte eine Politik, die mehr den theoretischen Grundlagen des Sozialismus und der Sowjetunion verpflichtet war als den Geboten arabischer Solidarität. Den traditionellen ländlichen Führungsgruppen wurde der Boden entzogen, Religion wurde zu einer freiwilligen Angelegenheit, Frauen begannen eine relativ starke gesellschaftliche Rolle zu übernehmen, Bildung und ärztliche Versorgung kamen der breiten Masse zugute.
Der Nordjemen war seit 1919 eine unabhängige Monarchie und wurde von Imamen regiert. Sie achteten darauf, daß Einflüsse von außen, seien es panarabische Ideen oder eine kapitalistische Entwicklung, weder ihre Macht noch die Frömmigkeit der Bevölkerung gefährdeten. 1962 stürzte eine kleine Gruppe nasseristischer Militärs den von Saudi-Arabien unterstützten Imam Ahmad. Der Coup wurde von Teilen der verarmten, überwiegend bäuerlichen Bevölkerung begrüßt, jedoch entstand keine breite Bewegung für die neue Republik. Selbst mit Hilfe der intervenierenden ägyptischen Armee konnten die Monarchisten nicht geschlagen werden. Die Revolution mündete in einen Bürgerkrieg, der erst nach acht Jahren mit einem Kompromiß endete. Die Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Strukturen des Nordens blieben erhalten. Die wesentlichste Veränderung war die Öffnung des Nordjemen zum Weltmarkt.
Je radikalere Töne die sozialistische Regierung in Aden anschlug, desto antikommunistischer orientierte sich die Regierung in Sanaa. Die Linke blieb im Norden schwach; nur kurze Zeit, um 1980, konnte die „Nationale Demokratische Front“ das Regime Ali Abdallah Salihs im Gebiet um Ta'izz durch bewaffnete Aufstände in Bedrängnis bringen.
In den Verfassungen beider jemenitischer Staaten war die Einheit als politisches Ziel verankert. Dies war jedoch eher eine Reminiszenz an den parallelen und zum Teil gemeinsamen Kampf der jemenitischen Revolutionäre gegen die Machtinteressen Saudi-Arabiens und Großbritanniens als eine konkrete Vorgabe. Die Einheit blieb eher Utopie als realisierbares Ziel. Der Riß zwischen „progressiv“ und „traditionell“ geht tiefer, als die anfänglichen hoffnungsvollen Absichtserklärungen der vereinigten Nord-Süd-Führung vor vier Jahren erkennen ließen. Doch selbst die Führung der während des Krieges im Süden ausgerufenen „Demokratischen Republik Jemen“ will an diesen Mythos nicht rühren. Unmittelbar nach ihrer Abspaltung vom Norden verkündete sie am 21. Mai als Ziel die „jemenitische Einheit“. Günther Orth
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