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Der Mensch ist nur ein Paß-Halter

In den Archiven von Ministerien und Flüchtlingsorganisationen: Geŕard Noiriel rekonstruiert in seiner „Tyrannei des Nationalen“ die Sozialgeschichte des Asyls in Frankreich  ■ Von Christian Semler

Irgendwann Anfang der 40er Jahre. Im Bahnhofsrestaurant von Helsingfors trinken zwei Emigranten, Ziffel, der Physiker, und Kalle, der Metallarbeiter, ihr dünnes Bier und reden über Politik. „Der Paß“, bemerkt Kalle, „ist der edelste Teil eines Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand' wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund. Aber ein Paß niemals.“ Ziffel stimmt zu und resümiert: „Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes.“

Als Brecht mit dieser Szene seine „Flüchtlingsgespräche“ einleitet, gibt es für die antinazistischen Emigranten kaum noch ein Schlupfloch aus Europa. Die nach Frankreich geflohen waren, erfuhren in den Internierungslagern, wie Vertrauen ins Geburtsland der Menschenrechte belohnt wurde. Die Masseninternierungen waren nur das letzte Glied in einer Kette von Maßnahmen, mit denen die französische Regierung auf den Ansturm politischer Flüchtlinge aus Spanien, Deutschland und den von den Nazis okkupierten Ländern reagierte. Ausgerechnet die Volksfrontregierung hatte schon 1935 verfügt, daß jeder deutsche Flüchtling, der nach dem Stichtag vom 1. Januar 1936 Frankreich erreichte, gnadenlos abgewiesen werden sollte. Massiver Protest der Öffentlichkeit erzwang die Fristverlängerung um ein Jahr.

Das gleiche Drama wiederholte sich nach dem „Anschluß“ Österreichs. Wieder wurde ein Stichtag für die Anerkennung festgelegt: der 14. März 1938. Mithin ein Datum, das das Gros der österreichischen Flüchtlinge ausschloß. Welcher Logik folgte diese inhumane Praxis, wie ist es erklärbar, daß ein demokratisches Land bedenkenlos gegen die eigenen proklamierten Grundsätze wie gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstieß?

Gérard Noiriel, Professor an der Ećole Normale Supérieure zu Paris, hat mit der „Tyrannei des Nationalen“ den Versuch unternommen, die Geschichte des Asyls in Frankreich von den Tagen der Großen Revolution bis zum Ende der 80er Jahre dieses Jahrhunderts, bis zur Ratifizierung des Schengener Abkommens – nicht zu erzählen, sondern zu rekonstruieren. Noiriel ist eine unermüdlich Akten nagende Archivmaus. Schon die Masse des durchgekämmten Materials – die Archive der Ministerien wie der Departements, der Flüchtlingsorganisationen, nicht zu vergessen die der Polizeipräfektur von Paris – ist furcht- und achtungserregend.

Aber Noiriel ist auch leidenschaftlich am behördlichen Kompetenzwirrwarr, an Methoden der aktenmäßigen Erfassung, an Prinzipien für die Herstellung von Fragebögen und vor allem an der Entwicklung des Paßwesens interessiert. Er hat seinen bösen Blick auf die Geschichte der Disziplinarprozeduren gerichtet. Wie wenig verbreitet diese Art von kritischer Behörden- und Polizeigeschichtsschreibung ist, kann man den Selbstanklagen entnehmen, die — auf der anderen Seite des Rheins — von deutschen Sozialgeschichtlern zu hören sind. Beispielsweise findet sich in dem instruktiven, von Alf Lüdke herausgegebenen Sammelband zur Polizeigeschichte „Sicherheit und Wohlfahrt“ kein Sterbenswörtchen über Fremdenrecht und „Fremdenpolizei“. Und dies 1992, dem Jahr des Sturmlaufs auf das Asyl-Grundrecht.

Der Dreh- und Angelpunkt von Noiriels Unternehmen ist die These von der „Nationalisierung“ des Sozialen am Ausgang des letzten Jahrhunderts. Indem der Nationalstaat die Massen der Bevölkerung politisch (durch das allgemeine Männerwahlrecht) und sozial (durch den Aufbau der Versicherungssysteme und den Schutz des Arbeitsmarktes) integriert, schafft er erst die Grundlage dafür, daß nationale Symbole ihre Wirksamkeit entfalten können. Erst von hier datiert die säuberliche Unterscheidung von Staatsbürgern und Ausländern, die in den darauffolgenden Jahrzehnten vermittels zweier Techniken, der Identifikation und der Katalogisierung, perfektioniert wird. Die 90er Jahre sind die Wasserscheide, die ein den Flüchtlingen günstiges, liberales 19. Jahrhundert von dem darauffolgenden Jahrhundert der Abschottung trennt.

Die Große Revolution hatte das Asylrecht als Menschenrecht proklamiert, um es in den nachfolgenden Revolutionskriegen sogleich wieder zu demontieren. Aber mit der Verfassung von 1793 war eine Norm gesetzt, zu der die folgenden Generationen asylfreundlicher Demokraten zurückkehren konnten. In der langen freihändlerisch- liberalen Phase, die dem Sturz der Bourbonen folgte, begann in Frankreich die glückliche Zeit politischer Flüchtlinge.

Am Beispiel der spanischen, vor allem aber der polnischen Flüchtlinge, die nach den gescheiterten Aufständen der dreißiger und sechziger Jahre in Frankreich Zuflucht fanden, erklärt Noiriel die frühen Erfassungstechniken der Behörden. Sie funktionierten über die Auszahlung von Unterstützungsgeldern und die Kontrolle der Wohnorte. Immerhin ging es darum, die unruhigen Ausländer vom revolutionären Zentrum Paris und von den jeweiligen Grenzdepartements fernzuhalten, eine Absicht, die meist an der Laschheit der zuständigen Behörden scheiterte.

Mit dem Siegeszug, mit der „Verinnerlichung“ des Nationalen erwuchs den französischen Behörden die Aufgabe, die Ausländer auf ihrem Territorium zuverlässig zu identifizieren und die Neuankömmlinge in „Politische“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu klassifizieren. Von der Kriminalistik borgten die Ausländerpolizisten erst das umständliche Verfahren der „Anthropometrie“, d.h. der Messung und Einordnung unterschiedlichster Körperteile bzw. Merkmale, dann machten sie sich die Fotografie zunutze, um schließlich von der neu entdeckten Daktyloskopie zu profitieren.

Der Erste Weltkrieg brachte schließlich die Ausweispflicht für Ausländer (für Franzosen wurde sie erst 1951 eingeführt), an die Stelle der personalen, durch die jeweilige Bezugsgruppe bestätigten Identität trat eine zweite, papierende, die durch den Paß begründet wurde.

Damit hatte sich die französische Bürokratie gegenüber dem Ansturm der politischen Flüchtlinge gewappnet, der zu Ende des Ersten Weltkriegs einsetzte, um bis in unsere Tage anzudauern. Noiriels Verdienst besteht hier in dem Aufweis jener Techniken des Asylverfahrens, die die heutige Praxis antizipieren. Vor allem geht es um die den Asylsuchenden auferlegte Pflicht, Beweise (möglichst noch schriftliche) dafür vorzulegen, daß sie in ihrem Herkunftsland tatsächlich verfolgt wurden. Was immer deutsche Behörden ersonnen haben, den Asylstatus zu verweigern, hier wurde es vorgedacht.

Der einzige Schwäche von Noiriels Werk zeigt sich in seiner vergleichenden Analyse von Bittschriften und Beschwerden, die von politischen Flüchtlingen im Lauf von 150 Jahren an die französischen Behörden gerichtet wurden. Noiriel kommt trotz beträchtlichen theoretischen Aufwands nicht über Trivialitäten hinaus wie die, daß Glaubwürdigkeitsnormen dem historischen Wandel unterliegen und die Bittsteller Scheinbiographien zu Paoier bringen, die in Wirklichkeit nur den gesetzlichen Anforderungen genügen wollen. Hier rächt sich, daß Noiriel die diskursanalytischen Bemühungen Michel Foucaults als seinem Thema unangemessen verwirft und dadurch das Machtdispositv verfehlt, in das auch die Flüchtlinge verstrickt sind. Aber wie überlegen ist diese Schwäche den Anstrengungen deutscher Gelehrter, die zwar Foucault feiern, aber zur Sache, der Geschichte der repressiven „Disziplinen“, bislang so wenig beizutragen haben.

Geŕard Noiriel: „Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa“. Verlag zu Klampen, Lüneburg 1994, 68 Mark

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