: Vor 50 Jahren: Das Massaker von Oradour
Gestern ist es fünfzig Jahre her, daß ein Bataillon der SS-Panzerdivision „Das Reich“ auf dem Weg zur „Invasionsfront“ in dem Dorf Oradour-sur- Glane bei Limoges 642 Menschen, Männer, Frauen, Greise, Kinder erschoß oder bei lebendigem Leibe verbrannte. Nur ein Dutzend Einwohner überlebte das Massaker. Zwei Tage vorher hatte eine Einheit der gleichen Division bereits in Tulle 99 Menschen erhängt, die vorher als Geiseln genommen worden waren.
In dem Prozeß, der neun Jahre später das Verbrechen sühnen sollte, saßen 21 Täter auf der Anklagebank – allesamt Mannschaftsdienstgrade. Der Befehlshaber der SS-Division, Lammerding, starb 1971 in Düsseldorf friedlich im Bett. Er wurde ebensowenig bestraft wie irgend ein anderer Offizier des Mordkommandos. Nur ein Untersturmführer, Heinz Barth, wurde 1983 in Ostberlin zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Befragt, wie er es hätte über sich bringen können, kleine Kinder zu verbrennen, antwortete er: „Es war nichts Außergewöhnliches.“ Wenn man das Verhalten nicht nur der SS, sondern auch der Wehrmacht an der „Ostfront“ in Rechnung stellt, hat Barth die Wahrheit gesprochen.
Die überlebenden von Oradour haben sich weder mit der Tatsache abfinden können, daß die Schuldigen in Deutschland der Strafe entkamen, noch mit der Amnestie, die das französische Parlament, der Staatsraison folgend, um die Einheit der Republik nicht zu gefährden, für die elsässischen Angehörigen des SS-Bataillons aussprach. Sie schickten alle Orden der französischen Ehrenlegion zurück und boykottierten die Krypta, die ihnen von der Regierung gestiftet worden war. Sie brachen lange Jahre jeden Kontakt mit den französischen Regierungsstellen ab und schwiegen eisig, als Präsident Mitterrand, auch er ein Befürworter der Amnestie, sie 1982 besuchte.
Gestern, am 50. Jahrestag der Mordtat, hatten sie sich schließlich bereit erklärt, an einem Staatsakt in Oradour teilzunehmen. Der Bürgermeister von Oradour, der Arzt Lapuelle, hatte Kinder aus Marzabotto, Lidice und Guernica eingeladen, die ein Spalier bildeten, als Mitterrand seine zweite Gedenkrede hielt. Vor einigen tausend Teilnehmern einer Kundgebung sagte der Präsident: „Das Verbrechen von Oradour hat alle anderen Verbrechen übertroffen. Wenn wir heute versuchen, eine neue Freundschaft zwischen den einst zerrissenen Völkern aufzubauen, dann vor allem, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt.“
Die französische Regierung will zwischen dem zerstörten Dorf, das man nach 1945 unberührt ließ, und dem wenige hundert Meter entfernten neuen Dorf ein Museum errichten, das nach dem Vorbild des Museums von Caen in der Normandie gestaltet werden soll. Die jährlich mehreren hunderttausend Besucher Oradours sollen dann nicht nur ein Bild des Verbrechens erhalten, sondern auch über die ideologischen und politischen Voraussetzungen des Massenmords unterrichtet werden. Über eine Beteiligung der Bundesrepublik an diesem Projekt ist nichts bekannt. Die Erinnerung an Oradour beschränkt sich bislang auf eine Fotoausstellung in Düsseldorf. In Tulle nahm an der Gedenkfeier eine Abordnung der schwäbischen Partnerstadt teil, auf der Gedenkveranstaltung in Oradour war kein offizieller Deutscher zu sehen. C.S.
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