: Die letzte Ölung
Warum die Löwen nach 13 Jahren Bundesliga-Abstinenz wieder erstklassig sind, weiß keiner so genau / Jedenfalls gewann 1860 in Meppen 1:0 ■ Von Reimar Paul
Meppen (taz) – Die nette Frau am Fahrkartenschalter wußte es nicht besser. Am Samstag morgen sei nicht viel los im Intercity-Expreß „Steinhuder Meer“ nach Meppen, hatte sie gemutmaßt. Eine Platz-Reservierung nicht nötig. Und was war? Der Zug platzte: Waggons und Gänge überfüllt. Dicke Schwaden Zigarettenqualm an der Decke, leere und halbvolle Dosen in den Abteilen. Vorfreude- und biertrunkene Fans schmetterten „60, 60“-Sprechchöre.
Die Löwen-Gemeinde hätte eigentlich in Sonderzügen aus dem bayerischen Freistaate ins Emsland einziehen wollen. Indes, der Löwen-Verein, 1860 München, verweigerte die von der Bundesbahn geforderte Vorabhaftung für eventuelle Schäden an den Waggons. Und so kam alles anders, als die nette Schalterauskunft skizziert hatte. Rund 8.000 MünchnerInnen mit Autos, dreißig Bussen oder im ICE „Steinhuder Meer“ pilgerten in den Norden. Zum „größten Konvoi seit dem Pokalfinale von Turin 1965“, wie 60-Manager Helmut Schmitz vorlaut angekündigt hatte.
Der verschlafenen Kleinstadt Meppen und ihren Balltretern war ein so großer Ansturm auswärtiger Fußballinteressen noch nicht widerfahren. Nicht, daß man Angst gehabt hätte vor den als trinkfest, doch friedliebend geltenden Löwen-Fans. Bewahre, beeilte sich SV-Vereinspräsident Wolfgang Gersmann zu versichern, doch „Sicherheitsfragen ganz neuer Art“ habe das Spiel der Spiele, das Endspiel der zweiten Bundesliga, eben aufgeworfen. Bei der Lösung derselben setzte die Clubführung auf Deeskalation: mit Polizisten, die sich aus vermeintlicher oder tatsächlicher Sympathie mit der Gästemannschaft blau-weiße Striche ins Gesicht schminkten. Auf Durchsagen des Stadionsprechers, der gar nicht untersagen wollte, daß Löwen die Zäune überklettern, nein, sondern nur darum bat, sich selbiges Tun fürs Spielende aufzuheben. Und außerdem den Löwen die Entlassung in die Freiheit auf den Rasenplatz eröffnete, da man beabsichtige, alle Tore der Arena zu öffnen – nach dem Abpfiff, versteht sich.
Vorher gab es 90 Minuten lang zu tun. Die 60er waren auf Meppen bestens präpariert – die Fanzeitschrift LöwenZahn hatte recherchiert, „die Fans tragen sogar bei den Auswärtsstiefeln Gummistiefel und verkleiden sich bei Heimspielen bisweilen als Kühe“. Also wollte man sich auch warm anziehen, um das einmalige Kunststück eines direkten Durchmarsches von der Amateur- in die Bundesliga zu vollenden. Lange mußten die Fans nicht auf das erste Löwengebrüll warten: Schon in der dritten Minute tunnelte Peter Pacult, Torjäger-Vize der zweiten Liga, Torwart Kubik – 1:0. Es sollte das einzige Törchen bleiben. Die Magerkost reichte für den Aufstieg. Doch das wußte man nach vier Minuten noch nicht. Hypernervös agierte die 60er Abwehr, die von den heimischen Angreifern mehrfach ausgespielt wurde. Rettung aus dem tiefen Tal der Münchner Not kam immer wieder vom Berg, Rainer Berg, seines Zeichens Torhüter im Bayernland. Ruhe kehrte erst gegen Ende der ersten Halbzeit ein, als sich der 0:2-Rückstand des Rivalen um den dritten Aufstiegsplatz, St. Pauli, herumgesprochen hatte. Wen kümmerte es in Meppen noch, daß die Löwen-Angreifer Winkler, Seeliger und der später für den verletzten Pacult eingewechselte Lilienberg Großchancen en masse versiebten?
Die glückseligen Fans nicht. Sie becherten, bevölkerten den heiligen Fußballrasen und zertrümmerten ein Tor. Man mag von soviel geballter Freudengewalt halten, was man will, indes der Aufstieg scheint schon dem Reich des Sagenhaften zu entstammen. Weil er bewerkstelligt wurde von einer durchschnittlich besetzten Mannschaft, einem fachlich nicht unumstrittenen Trainer, dem kettenrauchenden Fußballgeneral Werner Lorant, und einem windigen Präsidenten, Karlheinz Wildmoser, dieser, welch' Schmach, auch noch gleichzeitig Mitglied und Dauerkartenbesitzer beim verhaßten FC Bayern zu sein pflegt.
Der TSV 1860, deutscher Meister anno 1966, vor zwölf Jahren abgestiegen, zwangsreamateurisiert, aber auch in den Niederungen der Bayernliga nie von seinen Fans verlassen. Für die Bundesliga ist er zweifelsohne eine „Bereicherung“, wie Bundes-Berti die neue Lage der Fußballnation kommentierte. Eine Bereicherung, wie sie ebenso St. Pauli gewesen wäre. Nur hätten die Hamburger eben nicht zur „Belebung des Geschäfts“ beigetragen, das sich der Kapitän der großen Bayern im bajuwarischen Fußball-Freistaat, Lothar Matthäus, nun vorzustellen beliebt. Was soll's? „Samstag ab halb sechs“, so hatte Peter Pacult am Vortag prophezeit, „liegen wir in der Ölung.“ Die vorerst letzte?
Zuschauer: 16.000; Tor: Pacult (3.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen