: Ein Dach überm Kopf
Größer, höher, teurer – das westfälische Rasenturnier auf der Suche nach dem Superlativ ■ Aus Halle Jörg Winterfeldt
Eigentlich ist der Tennisspieler Medvedev weniger ein Mann von Glanz und Glamour als von Bescheidenheit. Doch als der Ukrainer in der letzten Woche im versteckten Halle eintraf, war es dort mit der Idylle schlagartig vorbei. Medvedevs brandneuer Ferrari Testarossa inmitten westfälischer Wiesen und Äcker verhieß die Rückkehr der großen (Tennis-)Welt. Geladen hatten, wie erstmalig im letzten Jahr, die Modemacher Weber und Hardieck zu ihren „Gerry Weber Open“, dem ersten deutschen Rasen-Turnier.
Doch Andrej Medvedev, 1993 im Finale dem Franzosen Leconte unterlegen, vermochte in Halle kaum etwas Bekanntes zu entdecken. Für nochmalige 30 Millionen Mark zusätzlich zu den vorherigen etwa 50 Millionen haben die Bauherren in den vergangenen zwölf Monaten so wenig mit weiterem Beton gegeizt, daß bei der Live- Übertragung des ZDF-Sportstudios am Samstag aus Halle Moderator Kürten, trotz Herzschwäche und daher rührender Fußball- WM-Abstinenz, mitsamt seinen ekstatisch klatschenden Gästen schlicht „überwältigt“ war.
Die Stichs, Medvedevs, Couriers oder Lecontes wohnen nun im 200-Betten-Sporthotel – unmittelbar auf der Anlage. Deren Centre Court faßt inzwischen 12.400 ZuschauerInnen statt ursprünglich vorgesehener 5.000. Und alle sitzen beim geringsten Regenschauer im Trockenen. Innerhalb von drei Minuten schließt sich über ihren Köpfen ein flexibel manövrierbares Dach. 120.000 Filzkugelfans insgesamt und damit einen deutschen Tennisturnier-Rekordbesuch erwarten sie in Halle. Das ZDF berichtet 27 Stunden vom wetterunabhängigen Turnier, CNN und Eurosport informieren zusätzlich das Ausland, und wo alle glücklich sind, haben lediglich einige Anwohner Angst vor dem nachbarschaftlichen Gigantismus in der neuen Welt von Halle.
Weil sich das größte deutsche Tennisstadion kaum mit einer Woche Herrentennis im Jahr wird amortisieren können, befürchten sie nun, in aller Heimlichkeit eine multifunktionale „Westfalenhalle“ vor die Tür gesetzt bekommen zu haben. Der erste Beweis folgt am 3. Juli, denn der Spanier Josè Carreras schmetterte statt Bälle tenorige Töne auf Halles Wimbledon-Rasen. Ihm folgt Mitte Juli das deutsche Davis-Cup- Viertelfinale gegen des Maestros Landsleute und Ende des Monats wohl ein Hochspringerwettbewerb, den Organisationsassistent Dietmar Mögenburg einmal zum „besten Meeting der Welt“ machen will. Auch Box-Weltmeister Henry Maske durfte Weber vor laufender Sportstudio-Kamera „einen schönen Gruß von meinem Manager Sauerland bestellen“. Die Chancen, daß er seinen nächsten Titelkampf im September in Halle austrage, „stehen gut.“
In der Provinz läßt die benebelnde Begeisterung über Maske, Medvedev und Mögenburg den nachbarschaftlichen Dissenz ungehört verhallen. Beide großen Zeitungsverlage der Region lassen als Turniersponsoren gerne ihre Gazetten, die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt, über die letzten baulichen und sportlichen Entwicklungen berichten. Doch wo der kritisierende Redakteur beizeiten zurückgepfiffen wird, haben die Hofberichterstatter Hochkonjunktur. Von denen verdient sich einer lieber zusätzliche Honorare durch die Mitarbeit am offiziellen Turnier-Programmheft als Ärger mit dem regionalen Wunder-Duo.
In der 19.000-Seelen-Kommune sieht auch die örtliche Verwaltung wenig Handlungsbedarf, da Halle seit dem ersten Rasenturnier in Deutschland nicht mehr nur an der Saale liegt. Zudem partizipiert man fürstlich am Reichtum der fleißigen Gewerbesteuerzahler. 321 Millionen Mark setzte das Modeimperium der beiden Kompagnons Weber und Hardieck 1993 um, scheffelte 11,4 Millionen Mark Gewinn mit vier Millionen gefertigter Modestücke und erwartet für dieses Jahr freudig die Penetration der 400-Millionen-Mark-Umsatz-Grenze in einer rezessiven Branche.
Weil Baugenehmigungsverfahren wohl nirgendwo sonst in der Republik mit einem für Beamtenverhältnisse derart lichtgeschwindigen Tempo verlaufen, schwante dem Spiegel bereits im letzten Jahr, die expansiven Weber & Co lebten kommunal im „kritikfreien Raum“. Gut trifft es sich, daß die Person des Gütersloher Oberkreisdirektors Kozlowski im Turnierbeirat der Open sitzt, ist dessen Behörde doch für die Ablehnung sämtlicher Anlieger-Widersprüche ebenso zuständig wie für alle Anordnungen der sofortigen Vollziehung, mit denen Baustopps rechtzeitig verhindert werden konnten.
Selbst die Münsteraner Oberverwaltungsrichter spendeten den Tennis-Nachbarn in zweiter Instanz nur wenig Trost und rieten angesichts „des hohen Prozeßrisikos“, das zwar für beide Seiten bestand, eine Verwaltung aber kaum erschüttern kann, zum Vergleich der Kläger mit den Bauherren. Nun ziert ein sechs Meter hoher, 50 Meter langer und 200.000 Mark teurer Erdwall die betroffene Seite des Turniergeländes, und des letzteren Nutzung wurde auf 18 Sport- und vier weitere Veranstaltungen pro Jahr festgeschrieben. Bleiben die Geräuschsimmissionsmessungen beim Turnier aber unter 55 Dezibel, „könnten wir“, weiß Weber, „den Centre Court sogar öfter nutzen.“
Aber während er das eigentlich gar nicht wolle und ZDF-Mann Hermann Ohletz bereits die Überdachung des nahen Golfgeländes persifliert, weil da im Club der Weber-Partner Hardieck präsidiert, hat der Stern bereits Webers neuestes Steckenpferd ausgemacht. Auffallend beiläufig spreche der westfälische Schneider neuerdings über den rheinischen Rennfahrer und angehenden Weltmeister Michael Schumacher. Deswegen sollten sie sich in Ostwestfalen schon einmal mit dem Gedanken an eine Rennstrecke vertraut machen – „mit kilometerlangen Tribünen für 200.000 Zuschauer“.
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