■ Ein Panorama am Tag nach der Europawahl: Im Schatten der Bundestagswahl
Die Europawahl mobilisiert zwar nicht, aber sie diszipliniert. Im Schatten der Bundestagswahl diszipliniert sie sogar den Protest. Der Markt der Möglichkeiten war mit einem breiten Angebot ausgestattet, aber die Nachfrage nach Neu- und Eigenartigem blieb gering. Zum ersten Mal fand eine Europawahl unmittelbar vor einer Bundestagswahl statt. Die Apathie relevanter und fortbestehender Protestpotentiale zeigt sich darin, daß diese Unzufriedenen ihre Chancen zur Zeit selbst dann nicht nutzen, wenn es nur der Gang zum Wahllokal um die Ecke erfordert.
Die Statt Partei hatte das Werk der Selbstzerstörung schon vor dem Wahltag geleistet. Auch der Rechtspopulismus ist zu Hause geblieben oder hat sich – jedenfalls bei der CDU – der Wählerschaft der Großparteien wieder zugesellt. Brunners „Bund freier Bürger“ half auch Haider nichts – diesmal soll's denn schon ein deutscher Führer sein. Der Rechtsradikalismus ist auf den ideologisch harten Kern von etwa zwei bis drei Prozent zurückgeworfen. Die „Republikaner“, die ihre bisherigen Erfolge ihren Zweideutigkeiten im Rahmen einer Legalitätsstrategie verdanken, sind mit dem Sichtbarwerden ihrer Gewaltvernetzung möglicherweise an eine Grenze gestoßen. In der Bundesrepublik hat der Rechtsruck der Mitte in der Asyl- und Ausländerpolitik, in der Politik der Inneren Sicherheit und – vor allem in Bayern – der Europapolitik ausgereicht, dem Rechtspopulismus zunächst einmal die Spitze abzubrechen.
Die PDS ist in den neuen Ländern die Partei der sozialistischen Traditionskerne und der sozialistischen Intelligenz, die ihre Privilegien verloren hat. Darüber hinaus ist sie die Protestpartei Ostdeutschlands. Die PDS ist als einzige der ostdeutschen Parteien Milieupartei und Mitgliederpartei. Als einzige der Klein- und Protestparteien hat sie die Chancen genutzt, die diese normalerweise bei Europawahlen haben. Für Protestforscher erfüllten die „Republikaner“ bisher im Westen eine ähnliche Funktion wie die PDS für den Osten: sie sind das in den Teilgesellschaften charakteristische Ventil und bieten die jeweils am meisten provozierende thematische Bündelung von Sozialprotest.
Europa – alles beim alten
Auch Europa ist ein Thema, in dem sich die Spaltung der Gesellschaft ausdrückt. Nicht über Streitfragen (nichts Europapolitisches wurde diskutiert, dies war eine zweckentfremdete Wahl), sondern durch die Zustimmung, die bei vielen in der Wahlbeteiligung selbst liegt. Die formal besser Gebildeten und politisch Interessierten, die wirtschaftlich Erfolgreicheren, die „Transnationalen“, sie alle vertreten das Prinzip Europa. Viele aus diesem Teil der Bevölkerung, ob links oder rechts, verteidigen mit ihrem Wahlgang das Rationalitätsprinzip Europa, bestehend aus Aufklärung und Kapitalismus, sichernd gegen extrem nationalistische Rückfälle.
Ein anderer Teil der Bevölkerung ist gleichgültig, apathisch, abweisend gegenüber dem integrierten Europa. Für nicht wenige ist Europa eine Projektionsfläche: ihrer schlechten Lebensverhältnisse, ihrer Fremdenaversionen, ihrer Gefühle von Statusbedrohung und Benachteiligung. Europa ist vor allem Wirtschaft, das Soziale wird national verwaltet, es kann keine Hilfe aus Europa erwarten. Der gewähren lassende Konsens gegenüber dem Elitenprojekt Europa bricht auf. Übrigens: Nicht nur das „Rationalverhalten“ der politischen Aktivschichten sichert die demokratische Legitimität Europas. Paradoxerweise geschieht dies auch dadurch, daß die meisten in Europawahlen nicht nur an Europa, sondern vor allem an die nationale Politik denken.
Machtpolitisch bleibt in Europa alles beim alten: die Politik der großen Koalition, Bedingung für den Einfluß des Parlaments, wird sich fortsetzen. Das ungefähre Gleichgewicht eines progressiveren und eines konservativeren Blocks, das für die meisten Einzelstaaten gilt, zeigt sich auch im Europäischen Parlament. Der institutionelle Mehrheitsdruck forciert die Zusammenarbeit dieser Lager. Die Herrschaft der kooperierenden Großparteien in Parlament, Ministerrat und Kommission wird anhalten.
Formierung der Kräfte
Die Kräfte formieren sich zur Bundestagswahl. Wir werden in Bonn wieder das alte Vierparteiensystem der alten Bundesrepublik bekommen, bereichert nur um Bündnis 90/Die Grünen. Mächtige Helfer sind bereits aufgetreten, um die Regierung zu retten, die zwar versagt hat, aber die richtigen Interessen vertritt: das Statistische Bundesamt, die Bundesanstalt für Arbeit, die Unternehmer, ausländische Staats- und Regierungschefs.
Wie sind die Aussichten der Kanzlermehrheit für die Bundestagswahl? Das Polster scheint dünner geworden. Man kann fest mit der FDP auch im nächsten Bundestag rechnen, aber wieviel wird sie der CDU wegnehmen, wird sie wieder stärker als die Bündnisgrünen, wie sehr ist das bürgerliche Lager tatsächlich geschmolzen? Wahlanalytisch gesehen haben Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen jeweils eigene Gesetze, nur die Medien machen sie alle gleich – mit psychologischen Wirkungen. Nun reden und schreiben sie einen psychologischen Sieg fest, dem die strukturelle Grundlage fehlt.
Die rot-grünen Potentiale sind unverändert groß und mehrheitsfähig. Die Europawahl zeigt sie lediglich im Zerrspiegel: die SPD kleiner, die Bündnisgrünen größer, als wenn am Sonntag Bundestagswahl gewesen wäre. Die Schwäche der SPD ist durch drei Faktoren zu erklären: Die strukturelle Mobilisierungsschwäche der Sozialdemokratie bei Europawahlen ist neu, Folge der besonderen Europadistanz und nachlassender Parteibindungen in den verunsicherten Lebenslagen, die in der sozialdemokratischen Klientel besonders stark vertreten sind. Zweitens das Formtief ihres fast desorientierend wirkenden Parteivorsitzenden. Schließlich die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, die immer den Regierenden hilft.
Dazu kommen Strategieprobleme. Das Wahldilemma von Scharpings SPD brach nicht zufällig an der Koalitionsfrage auf. Ausgerechnet die sozialliberalen Sympathisanten aus Mainz und Düsseldorf haben die inszenierte und durchgeplante Empörung über die FDP erfunden und in der Parteispitze durchgesetzt. Plumper konnte man die doch keineswegs geschlossene FDP gar nicht zusammenschweißen. Der Kandidat verfängt sich in seiner Strategie. Ab nun muß er permanent dementieren, daß er mit der FDP nicht koalieren wolle und daß er Rot-Grün anstrebe. Scharping selbst hat sein großes Vermeidungsthema, Rot- Grün, zu einem Hauptthema gemacht.
Seit Scharping Vorsitzender ist, gab es bei allen Wahlen eine Abwanderung von der SPD zu den Grünen, am stärksten in den Metropolen und Universitätsstädten, wo sich die Dinge schneller herumsprechen. Die Abwanderung zu den Bündnisgrünen und die Apathie des sozialdemokratischen Traditionalismus sowie Rechtspopulismus sind die Probleme Scharpings. Die Europawahl wird den Selbstzweifel der GenossInnen erhöhen, vielleicht doch nicht den richtigen Kandidaten und die richtige Strategie zu haben. Ohne reformpolitische Aufbruchstimmung wird es keine Wende geben. Joachim Raschke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen