: Die "dritte Kraft" hat entschieden
■ Die Bündnisgrünen profitierten bei der Europawahl vom Parteienverdruß, die PDS von den Verlierern der Einheit / Wähler wanderten insbesondere von der SPD zu den Grünen und von der FDP zur CDU
Berlin (dpa/taz) – Das vorausgesagte Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Elefanten SPD und CDU hat nicht stattgefunden. Eine neue, eine „dritte Kraft“ hat die Europawahl entschieden. Im Osten wie im Westen ging sie zu Lasten der SPD. So die Feststellung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft, Infas, einen Tag nach der Wahl.
Wer ist diese „dritte Kraft“? Im Westen heißt sie Bündnis 90/ Grüne, im Osten ist es die PDS. Beide bezogen ihre Stärke aus Konflikten. Die Bündnisgrünen im Westen profitierten vom Bürgerverdruß den großen Parteien gegenüber, die PDS von den Problemen die sich aus der Folge der Einheit ergeben. Allerdings reichte es bei der PDS nicht für Europamandate, im Gegensatz zu den zwölf Sitzen für die Bündnisgrünen.
Offenbar befinden sich derzeit die rechtsextremen „Republikaner“ in einer Imagekrise, so die Infas-Interpretation ihrer Talfahrt unter die 5-Prozent-Marke. Trotzdem, faßt man alle Gruppen aus dem rechten Spektrum zusammen, ergeben sich immer noch mehr als fünf Prozent für die Rechten.
Die CSU konnte die vermeintliche Bedrohung – einerseits politisch durch die „Republikaner“ und andererseits wahltechnisch durch die Vergrößerung der Bundesrepublik – mühelos abwehren. Für ihren Spagat zwischen dem offiziellen Bekenntnis zu Europa und der dosierten Anti-Brüssel- Politik verbuchte sie so manches Kreuz. Selbst die Amigo-Affären wurden vergessen.
In der Vergangenheit schmerzte eine niedrige Wahhlbeteiligung SPD und CDU gleichermaßen. Diesmal stolperte nur die SPD über den Fangstrick, CDU/CSU gewannen sogar leicht hinzu. Offenbar profitierte sie von den ersten Anzeichen des wirtschaftlichen Aufschwunges. Im Osten war das Vertrauen in eine sichere Zukunft innerhalb der letzten fünf Monate von 37 auf 49 Prozent, im Westen von 46 auf 60 Prozent gestiegen. Als Folge dieser Zuversicht in die Wirtschaft verringerte sich das Protestwählerpotential.
Der Wahlkampf war arm an Themen und Konflikten zwischen den Parteien. Streitigkeiten innerhalb der Parteien gewannen an Bedeutung. Bei der SPD war es die Auseinandersetzung um Tempolimit und Ergänzungsabgabe, bei den „Republikanern“ und der Statt Partei um die Richtung und innerparteiliche Sauberkeit und bei der FDP die Zerreißprobe um die Bundespräsidentenwahl. Autoritätsverlust der politischen Führung war die Folge, insbesondere der Parteivorsitzenden.
In beiden Teilen der Republik wird die neue „dritte Kraft“ zu Lasten der SPD gestärkt, analysiert Infas. Hier wie dort kann die CDU ihre Vormachtstellung stabilisieren, die SPD ist klare Verliererin, die FDP wird auf gleiches Format in Ost und West heruntergestutzt. Die FDP leidet auch an der Anti- Europa-Partei ihres Ex-Mitgliedes Manfred Brunner: Das eine Prozent des neugegründeten BFB hätte die FDP über die kritische 5-Prozent-Hürde gehoben, vermerkt Infas. Ausschlaggebend für das Aus der FDP war die Wählerwanderung hin zur CDU, nämlich netto gut 400.000 Wähler und Wählerinnen im Westen. Im Osten waren es, hier im Vergleich zur Bundestagswahl 1990, fast 200.000.
Heftig wurde die SPD von den Bündnisgrünen zur Ader gelassen: Hier folgte die Wanderung einem ähnlichen Muster wie vor drei Monaten in Niedersachsen. Die Verlagerungen innerhalb des rot-grünen Lagers waren in den großen Städten und Dienstleistungszentren am stärksten ausgeprägt. 660.000 ehemalige SPD-WählerInnen im Westen desertierten zur Öko-Partei. Im Osten gewann Bündnis 90/ Die Grünen allerdings nur 11.000 Stimmen auf diesem Weg. Im Osten waren die Abwanderungen der SPD an die PDS von entscheidender Bedeutung: Der Nettosaldo betrug gut 210.000 Wähler, das entspricht etwa der Einwohnerzahl Rostocks.
Überhaupt kann man die PDS auch als Gewinner einer Polarisierung im Osten sehen: Für sie stimmten die Verlierer des Einheitsprozesses, egal welcher Couleur, die Einheitsgewinner dagegen kehrten nach vorübergehender Zurückhaltung oder gar Abwanderung zur CDU zurück. Wanderungen von der SPD zur PDS wurden kompensiert durch diejenigen von der CDU zur SPD. Darin zeigt sich eine große Flexibilität der WählerInnen im Osten, die modern abstimmen: nämlich rational und situationsabhängig. Ein Ergebnis geringer Parteibindung. Auf den ersten Blick zeigte sich in den alten Bundesländern ähnliche Tendenzen. In allen zehn Ländern gab es gegenüber der letzten Europawahl Stimmengewinne für die Union und für Bündnis 90/ Die Grünen, Stimmenverluste für Sozialdemokraten, Liberale und „Republikaner“.
Die größten Unterschiede zwischen den alten Bundesländern zeigen sich bei der Wahlbeteiligung. Dort, wo gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden, lag sie deutlich über dem Durchschnitt von 59,5 Prozent: in Rheinland- Pfalz und im Saarland bei 74, in Baden-Württemberg bei 66 Prozent.
Ein interessanter Fall ist Berlin, eine Art Mikrokosmos, die gesamtdeutsche Landschaft widerspiegelnd. Wenn das Ergebnis aus den westlichen und den östlichen Bezirken zusammengenommen wird, wetteifern hier CDU und SPD mit rund 28 Prozent um den ersten, Bündnis 90/ Die Grünen und PDS mit 14 beziehungsweise 16 Prozent um den dritten Platz. roga
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