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Manchmal entsteht dabei ein Film

Kein Politkino, kein Pamphlet – in seinem Film „L'homme sur les quais“ erinnert sich Raoul Peck poetisch und schonungslos an eine Kindheit unter der Militärdiktatur in Haiti  ■ Von Volker Weidermann

Die Erinnerung ist ein gar schwankend Ding. Zweifelhaft, launisch, unzuverlässig und doch die einzige Wahrheit im Leben jedes Menschen. Sie läßt sich nicht erzwingen, ist oft rätselhaft in ihrer Auswahl des Merkens und Vergessens und ist nach vielen Jahren manchmal einfach wieder da. Es gibt aber auch das aktive Sich- Erinnern, das Bemühen um Rekapitulation einer Vergangenheit, die man unbewußt immer in sich trägt. Und manchmal entsteht dabei ein Film.

Sarah erinnert sich an die Zeit, als sie acht Jahre alt war, damals in Haiti 1960, der Diktator Duvalier hatte vor drei Jahren die Macht im Land übernommen, aber was wußte sie damals schon davon. Für sie gibt es zu Beginn des Films nur die Alpträume, die sie heute, 30 Jahre später, noch immer nachts nicht schlafen lassen. Und es gibt das Bild, als sie eines Morgens auf den sonnigen Balkon ihres Elternhauses tritt, sich gähnend reckt und plötzlich in einem Hof nebenan beobachtet, wie ihr Onkel Sorel von Männern brutal gefoltert wird. Ihr Vater steht dabei. Als er Sarah erblickt, bemüht er sich nur, sie mit merkwürdig stummen Schreien vom Balkon zu vertreiben.

Dies Bild steht am Anfang des Films, und das ist alles, woran sich Sarah erinnert, und sie versteht es nicht. Sie versteht nicht, warum ihr Vater schweigend zusieht, warum ihr Onkel zum Krüppel geschlagen wird, warum niemand etwas tut. Es kommen dann immer neue Bilder ihrer Kindheit hinzu, die zuerst gar nicht zusammenzugehören scheinen. In zufälliger Reihenfolge gibt es Szenen aus ungewisser Zeit, von Menschen, die man nicht kennt und die der Film auch gar nicht vorstellt. Belohnt wird man für seine Geduld durch wunderschöne Bilder, fast westernartige Szenerien, verlassene, staubige Straßen, sengende Sonne, bunte Holzhäuser und das Bild von Sarahs Erinnerung, das am Ende ganz von selbst vollständig entstanden sein wird. Es ist ein Film über die Militärdiktatur Haitis im kleinen. Wie wirkt sich ein verbrecherisches System auf den Alltag in einem kleinen Dorf in der Provinz aus, und wieso funktioniert das auch da, wo sich doch alle kennen. Denn es funktioniert tatsächlich vollkommen. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Sarahs Vater, der ursprünglich in mächtiger Position im Dorf den Mut nicht findet zu widerstehen, muß fliehen, die, die bleiben, müssen sich arrangieren mit dem System. Das Böse – in diesem Film trägt es den Namen Janvier, der mordet, foltert und Menschen nach Belieben ins Gefängnis wirft. Der Widerstand hat viele Gesichter – das des heroisch Stolzen, der sterben muß, oder des Feigen, der sich arrangiert und im geheimen lästert. Dann gibt es noch den Widerstand Sorels, der nach den Folterungen zum schwachsinnigen Krüppel wird und als einziger die Freiheit hat, offen seine Verachtung und seinen Haß zu äußern: Die Straße ist zu Ehren des Diktators prächtig geschmückt, in Erwartung einer Militärparade gespenstisch leer, und Sorel steckt sich ein Bild des Diktators an den Arsch. „Der Mann auf dem Quai“, dieser Spielfilm mit dokumentarischen Zügen, ist ein Film voller Härte und Poesie.

„L'homme sur les quais“, Regie: Raoul Peck, mit: Jennifer Zubar, Toto Bissainthe, Jean-Michel Martial, François Latour, u.a., Dominikanische Republik, 105 min. Ab heute, 18.45 Uhr, Filmbühne am Steinplatz, Hardenbergstraße 12, Charlottenburg und 20.30/22.30 Uhr, Sputnik Südstern, Hasenheide 54, Kreuzberg.

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