: "Identitätsgefängnis"
■ Ein Interview über "Normalisierung", schwule Emanzipation und schwule Identität mit dem Berliner Psychologen Wolfgang Hegener
Wolfgang Hegener, Jahrgang 1964, veröffentlichte zuletzt „Das Mannequin. Vom sexuellen Subjekt zum geschlechtslosen Selbst“, (konkursbuch, 1992).
taz: 25 Jahre nach Stonewall: Ist die homosexuelle Emanzipation geglückt oder gescheitert?
Wolfgang Hegener: In gewisser Weise ist sie geglückt. Die schwule Sexualität und der schwule Lebensstil insgesamt sind mittlerweile ganz auf Normalität abgezogen, sind normalisiert. Im Sinne des Teils der Bewegung, der sich als Bürgerrechtsbewegung versteht und die Gleichstellung fordert, ist die Emanzipation sicher weitgehend gelungen.
Was heißt in diesem Zusammenhang Normalität?
Normalität heute ist nicht mehr die pure monogame Heterosexualität in ehelichen Banden. Vielmehr haben die Emanzipationsbewegungen, die die Normalisierung vorangetrieben haben, eine neue Normalität gesetzt. Ein ganz bestimmter Lebensstil, den Schwule verkörpern, wird zum Modell, zur Norm. Der Soziologie Ulrich Beck hat einmal davon gesprochen, daß ein neuer Sozialcharakter aufzieht, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß er nicht mehr behindert ist durch Ehe, Familie und Kinder – dafür flexibel ist, mobil und anpassungsbereit. Und das leben Schwule vor, besonders in den Metropolen. Schwule drängen besonders auffällig in die zukunftsträchtigen wirtschaftlichen Sektoren, die Dienstleistungs- und Zirkulationssektoren. Insofern kann man fast meinen, daß Schwule die Gewinner dieses Modernisierungsprozesses sind, der in den letzten zwanzig Jahren stattgefunden hat. Also just seit der Zeit, in der auch diese sogenannten Emanzipationsbewegungen entstanden sind. Wenn man das gegen den Strich bürstet, muß man sagen, funktioniert die Macht, mit der wir es zu tun haben, gerade über diese Befreiungsmechanismen. Denn die Emanzipationsbewegungen sind Teil bestimmter gesellschaftlicher Prozesse und stehen nicht außerhalb. So hängt die Entwicklung eines „gay lifestyle“ unmittelbar und direkt zusammen mit bestimmten Modernisierungsprozessen. Umfassender gesagt – und jetzt bezogen auf die Geschlechter- und Sexualordnung –, verbindet sich diese Entwicklung damit, daß sich fortpflanzungsunbezogene und fortpflanzungsbezogene Sexualität entkoppeln.
Bestimmen diese Eigenschaften, die so gut als Modell zu diesem modernen Typus passen, das Wesen des Homosexuellen?
Ich gehe nicht davon aus, daß man einfach homosexuell ist. Man wird es. Der Schwule von heute und sein Lebensstil werden subkulturell sozialisiert, verstärkt seit dem Ende der sechziger Jahre. Die homosexuelle Identität nach dem Coming-out wird hier über eine warenförmige, eine marktförmige Sexualität gebildet, die wiederum mit einem bestimmten Typus von Kapitalismus zusammenhängt, in dem die Einschränkung von Bedürfnissen ganz disfunktional wird. Zwar habe ich im Hintergrund immer noch den Gedanken, daß es da etwas Subversives geben müßte. Aber die Normalisierung treibt das restlos aus.
Aber was ist mit jenen, die an diesem Markt teilnehmen und dabei von Befreiung sprechen? Die sich nur in Leder oder nur im Dunkeln begegnen und glaubhaft versichern, daß es just das ist, worauf sie lange warteten?
Was da in den Darkrooms, Dunkelräumen, abgeht, ist doch ein imaginäres Spiel. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Räume halb dunkel sind. Sie sind hell genug, daß man nach bestimmten Merkmalen diskriminieren kann, im doppelten Sinne. Man kann gerade noch erkennen, zu welcher Szene der andere gehört oder ob er einen Schnäuzer trägt. Andererseits ist es dunkel genug, daß man seine ganzen Wünsche projizieren kann. Der andere ist sozusagen die Verkörperung des eigenen Wunsches. Bis zu dem Moment, wo man heraustritt und das Phantasma mit der realen Person konfrontiert wird. Das Phantasma wird gerettet und klebt sich an die nächste Person. Steckt dahinter Angst?
Sicher auch. Wenn man das homosexuelle Begehren definieren sollte, so ist es zutiefst geprägt von diesem imaginären Verlangen, sich zu spiegeln, also ein narzißtischer Modus, wenn man so will, verbunden mit starken Bindungsängsten.
Geht es nicht auch darum, sich der eigenen Homosexualität zu versichern?
Das würde ja bedeuten, daß die schwule Identität sehr unsicher wäre. Verbirgt sich dahinter nicht eine große Unsicherheit darüber, ob man wirklich so eindeutig schwul ist? Gibt es überhaupt diese Eindeutigkeit?
Sind Heterosexuelle zu gleichen Fragen gezwungen?
Sicher nicht in dem Maße. Aber ich glaube schon, daß es ein schwules Vorurteil ist, es gebe kein heterosexuelles Coming-out. Heterosexualität verliert heute doch zunehmend an Selbstverständlichkeit. Insgesamt glaube ich, daß Homo- und Heterosexualität keine Selbstverständlichkeiten sind. Wie kommt es eigentlich, daß sich Vorlieben zu einer so geschlossenen Identität oder scheinbar geschlossenen Identität zusammenschließen? Zu Identitätsgefängnissen? Das ist stark erklärungsbedürftig.
Haben junge Schwule heute überhaupt eine Chance, diesen „Identitätsgefängnissen“, dieser vorgezeichneten Sozialisierung in der Subkultur zu entgehen? Immerhin erfährt man nur dort, daß man nicht der einzige Schwule ist auf der Welt, wie man es während des Coming-outs dachte.
Sicher, aber ich sehe in dem Coming-out-Prozeß und dem, was danach kommt, vor allem den Zwang zur Vereindeutigung. Da fangen dann alle an zu erzählen, daß sie es schon immer waren. So ein Blödsinn! Da wird eine neue bruch- und nahtlose schwule Geschichte gestrickt, und man paßt sich mit dieser Geschichte in vorgegebene Strukturen ein und zimmert sich schnell eine geschlossene schwule Identität. Darin steckt ein Zwang zur Eindeutigkeit, der auch eine Form von Gewalt ist. Gewalt, die man auch seinen eigenen Bedürfnissen antut.
Sich eine Identität zu verschaffen ist eine Form des Überlebens. Aber die Utopie besteht doch darin, daß man nicht immer identisch mit sich selbst sein muß. Wenn aber alles abgezogen wird auf die Frage der Homosexualität, dann wird diese zu einer Projektionsfläche für alle Probleme. Das schafft zwar Stabilität, aber es ist doch auch eine Form von Abwehr – von beispielsweise der Frage, ob und wie ich Beziehungen aufnehmen kann und will und wie ich in der Lage dazu bin, sie zu leben. Daß Homosexualität zum Universalschlüssel wird für die Biographie, das leuchtet mir immer weniger ein. Die ganze schwule Identität hängt vor allem an dem Diskriminierungsmythos. Dabei fallen die ganzen Vorteile, die Homosexuelle in dieser Gesellschaft auch haben, unter den Tisch.
Welche Notwendigkeit für eine schwule Bewegung bleibt da noch?
Polemisch gesagt: Es gibt keine mehr. Was zu tun übriggeblieben ist, das erledigten die bürgerrechtsbewegten Schwulenvereine, die nur noch pure Antidiskriminierungspolitik betreiben. Das einzig Sinnvolle, was die Schwulenbewegung noch tun könnte, wäre, an ihrer Aufhebung zu arbeiten. Die Homosexuellen sind sehr etablierte Leute. Als Folge davon kündigen sie ihre Solidarität mit anderen Gruppen auf, wie beispielsweise mit den Pädophilen. Was ganz verlorengegangen ist, sind übergreifende Überlegungen wie Kapitalismus- oder Patriarchatskritik. Statt dessen wird über die Homo-Ehe debattiert – etwas völlig Anachronistisches, da Ehe und Familie sich aufzulösen beginnen. Daran knüpft sich die Frage, ob die Schwulen nicht ihren Modellcharakter in dem Maße verlieren, wie die Entwicklung, die sie vorangetrieben haben, sich gesamtgesellschaftlich umsetzt.
Verschwinden die Homosexuellen?
Die Voraussetzung für die sexuelle Ordnung, mit der wir es noch zu tun haben – Homo-, Hetero- und Bisexualität –, ist einerseits die Geschlechterdifferenz und andererseits die Familie. Diese beiden Größen haben sich schon verändert und verändern sich weiter. Welche Rückwirkungen hat das auf die sexuellen Identitäten? Was zu beobachten ist, ist eine Vervielfältigung von Identität im Sinne einer inflationierenden Entwertung. Neue Identitäten, die nur noch schwer mit der Klammer „schwul“ zu fassen sind. Was hat beispielsweise ein Softie-Schwuler mit einem Lederkerl oder schwulen S/ Mler zu tun? Sie verbindet lediglich der krude Umstand, daß beide auf Männer stehen. Vielleicht hat ein schwuler S/Mler viel mehr zu tun mit einem heterosexuellen S/ Mler. Bleibt die Frage: Gibt es nicht doch feinere Differenzierungen als nur schwul und hetero? Interview: Elmar Kraushaar
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