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Das weggeschminkte Elend

Tausende Schwule sterben – und die Schwulenbewegung und die Aids-Bewegung leben in zwei Welten / Warum es so nicht weitergehen darf – Ein Plädoyer für einen Neubeginn  ■ Von Tom Kuppinger

Wie Altäre sehen manche Nachttischchen auf den Aids-Stationen aus. Altäre des schlechten Gewissens, Altäre der verzweifelten Hilflosigkeit. Literweise schleppen Besucher bunte vitaminreiche Saftflaschen an, kiloweise Obst, als Garnierung Blumensträuße. Der Kranke ist ausgesondert, Insasse, bleibt nach der Besuchszeit alleine zurück, ist Statistikeinheit.

Das Virus unterscheidet nicht nach sexueller Orientierung, und auch im Tode sind alle gleich. Mittlerweile gibt es alleine in Berlin Tag für Tag einen Aids-Toten. Nach wie vor stellen schwule Männer dabei die Mehrheit, auch bei der offiziellen, vorsichtig geschätzten Rate von bundesweit „nur“ 2.000 Neuinfektionen jährlich. Vergangenes Jahr hat die amtliche deutsche Aids-Statistik die 10.000er-Marke durchbrochen. Viele von diesen Menschen sind bereits tot.

Die politische Situation ist absurd und schizophren: Wir haben heute in Deutschland eine Schwulenbewegung und eine Aids-Bewegung, und beide legen politisch wert darauf, säuberlich voneinander getrennt zu werden – auch wenn viele ihrer Mitglieder sich beiden zurechnen.

Taktische und politische Motive haben dabei auf beiden Seiten dazu geführt, daß man das jeweils andere Thema gerne meidet: Ab Mitte der 80er gab es in der Schwulenbewegung den wichtigen Konsens, Aids nicht als „Schwulenpest“ etikettieren zu lassen. „Aids geht jeden an“ wurde zum Slogan. Aus mehreren Gründen: Zum einen galt es zu verhindern, daß die Gesellschaft den Infizierten und Kranken nicht alles Menschenmögliche angedeihen läßt, nur weil sie Randgruppen angehörten. Zum anderen war damals (Gauweiler!) ein reaktionäres gesellschaftliches Rollback gegen alle Lesben und Schwule real zu befürchten.

Politisch erschien es deshalb aus schwulenpolitischer Sicht richtig, das Thema nicht in die Hauptthemenliste der Bewegung aufzunehmen. Auf der anderen Seite entstand die Aids-Bewegung. Sie wiederum, obwohl von Schwulen gegründet, wollte und durfte von Anfang an nicht „zu schwul“ sein. Zum einen mochte man den weiteren Opfern der Krankheit, den Drogen-Usern, Prostituierten, Blutern und anderen nicht die Solidarität verweigern. Zum anderen galt es beim Poker mit Politikern und Beamten um Projektgelder „neutral“ zu wirken. Aids-Hilfe als Schwulenverein – dafür wären kaum Millionen geflossen.

Eine Arbeitsteilung, mit der auch die Schwulen selbst leben können? Ja und nein, zeigt sich immer mehr. Ja, weil diese Taktik erfolgreich verhindert hat, daß eine neue Schwulenhatz im Aids-Zeitalter begann. Ja, weil sie in Deutschland den selbstverantwortlichen schwulen Sex gerettet hat – und damit auch viele Leben. Und ja, weil sie andererseits tatsächlich ziemlich erfolgreich gewährleistet, daß Staat und Gesellschaft sich nicht aus der Verantwortung stehlen.

Eine Arbeitsteilung, mit der man leben kann? Nein, weil sie, wie sich nun abzeichnet, auf lange Sicht beide Bewegungen schwächt, zu Funktionärshäufchen ohne Basis und Kampfkraft degradiert.

Nehmen wir zunächst die Schwulenbewegung, deren 25. Geburtstag nun ja festgemacht am New Yorker Christopher Street Day begangen werden soll. Die Erfolge sind gewaltig seit jenen düsteren Adenauer-Jahren, riesige Netzwerke an Gruppen, Kneipen, Medien, Anlaufstellen, Treffpunkten sind entstanden. Selbstbewußtsein, Selbstverständlichkeiten und Rechte wurden erkämpft, die nicht mehr zurückgenommen werden können. Also Klassenziel erreicht?

Wenn man die müden Reste, das Niveau, die Langeweile und die Verlautbarungen von weiten Teilen dieser sich noch Bewegung nennenden, heillos zerstrittenen Grüppchenwelt anguckt, so kommt leicht der Eindruck auf, es gäbe nicht mehr viel zu tun, zumindest, was konkrete Realpolitik anbelangt. In Staatsbürokratien werden Schwulenbeauftragtenstellen „erkämpft“, der unveränderte Erhalt der Klappen wird bierernst von der Hetero-Welt eingeklagt, man zankt sich um Homo-Ehe und Outing von Schlagersängern, Demo-Routen und politisch korrekte Feten – ganz so, als gebe es außer diesen Mätzchen nichts mehr zu tun.

Was folgt daraus? Eine Ausdünnung der „Bewegung“ bis hin zur Belanglosigkeit, Orientierungslosigkeit und intellektuellen Verflachung. Klar, daß mancher durchaus bewußte und politische Kopf im Dunstkreis dieser Grüppchen und Uralt-Parolen nicht seine Abende verbringen möchte.

Vergessen wir also die Schwulenbewegung, ernennen die Aids- Solidaritäts-Bewegung zur wahren, neuen Schwulenbewegung? Davor müßte man zunächst deren Zustand ansehen. Von Bewegung kann hier kaum noch die Rede sein – nach ungeheuren Erfolgen vor allem in den 80er Jahren: Den Aktivisten ist es gelungen, 1) Safer Sex als freiwilligen Selbstschutz zu etablieren, 2) daß bereits angedachte schlimmste Restriktionen, Aussonderungen und Menschenrechtsverletzungen hier in zeitweilig fast letzter Minute verhindert wurden und 3) ein beachtliches Netz an Pflege-, Beratungs- und anderen Hilfsangeboten entstehen konnte. Dies um den Preis des Bewegungscharakters.

In Deutschland – im Gegensatz etwa zu den USA und all jenen Ländern, in denen die Staatsgelder nicht so schnell flossen – ist Aids- Arbeit Profiarbeit, institutionalisiert, bürokratisiert, also ohne besagte Staatsknete nicht mehr denkbar. Funktionäre, Soziologendeutsch und Planstellendenken haben der Basis weitgehend den Garaus gemacht.

Die Basis aber – also vor allem die Schwulen – ist dafür zutiefst dankbar: Aids bleibt dafür im Gegenzug im Getto der Aidskranken und Aids-Arbeiter, ist Profisache, geht Otto Normalschwul nichts an.

Das System der Aids-Hilfen wird offen und nach außen nicht mehr hinterfragt, große Diskussionen finden nicht mehr statt. Wer das Virus bekommt, wird Patient, Fall, Betreuungseinheit, leidet und stirbt alleine, isoliert, gegängelt und unpolitisch. Mitmachen? Aufschreien? Sich einbringen? Wo und wie im Dickicht der Referate und Macher mit dem Hochschuldiplom?

Dabei ist die Situation weiterhin katastrophal. Und dies nicht nur, weil den Aids-Hilfen Kürzungen ins Haus stehen. Es fehlt in wirklich allen Bereichen an Geld. Und an Menschen. Die Situation ist katastrophal, weil das Sterben immer weitergeht, weil die Schwulen sich dank der hier geschilderten Aufgabenteilung daran gewöhnt haben, weil mutterseelenalleine gestorben und gelitten wird.

Die ideelle Trennung von Schwulen- und Aids-Themen führt im realen Leben eines Menschen dann leicht zu einer Art Überweisung von einer Szene in die nächste, aus dem Schwulen wird bei Krankheitsbeginn ein Aidskranker.

Zehn Jahre Aids-Bewegung – das heißt auch, das Leiden wurde delegiert. Und daraus folgt, daß viele, viele einzelne sich zwar im Privaten als Angehörige, Freunde oder Betroffene furchtbar an der Seuche aufreiben, daß sie ausbrennen, verschleißen, es nicht mehr schaffen, auch noch den vierten oder fünften Menschen zum Tode zu begleiten.

Wenn also die Schwulenbewegung ihrem Anspruch nur im mindesten gerecht werden will, dann muß sie Aids wieder ganz oben auf ihre Tagesordnung setzen. Aus Notwehr: denn Tausende von uns sind schon tot, Tausende werden noch folgen. Dem steht natürlich das Vorurteil im Wege, Aids-Arbeit sei karitatives betuliches Handeln, nicht kämpferisch, nicht revolutionär genug.

Jenen Teilen der Lesbenbewegung, die sich derzeit erfreulicherweise auf die Schwulenbewegung zubewegen, verlangt die Aids-Problematik viel uneigennützige Solidarität ab, wenn nicht klar wird, daß es dabei um Visionen eines humaneren Umgangs mit Leben und Tod und um den Kampf gegen Ausgrenzung von abgestempelten Menschen aller Art geht.

Neu beginnen könnte man mit einer gemeinsamen Bestandsaufnahme des derzeit so schön weggeschminkten Elends. Nichts sehen, hören, sagen. Zum Beispiel in Sachen Neuinfektionen, neue künftige Tode. Eine neue schwule Generation wächst gerade sorglos nach. Es folgt daraus, daß wir als Szenen, Subkulturen und „Bewegung“ wieder selbst aktiv und ganz neu kreativ werden müssen. Zumal jetzt, wo Aids für die Mehrheit, die Heteros, immer weniger ein Thema ist.

Wo ist in Deutschland die laute, wütende Lobby, die Wissenschaft, Forschungspolitikern und Pharmaindustrie auf die Finger guckt, die nachsieht und einfordert, daß wirklich geforscht wird nach dem Gegenmittel und nach Überlebensstrategien?

Wer weiß denn, ob überhaupt noch wirklich alles in der Forschung getan wird, was möglich wäre? Wer erzwingt auf der Straße, daß mehr geschieht?

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