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Das Ei ist rund Von Mathias Bröckers

Daß der Höhepunkt der deutschen Philosophie weder von Hegel noch von Heidegger, sondern von Sepp Herberger stammt, ist unter Hermeneutikern ja schon länger kein Geheimnis mehr: „Der Ball ist rund.“ Jetzt, wo wieder Fußball-WM ist, rückt die Relevanz dieses Diktums deutlich ins allgemeine Bewußtsein: Insgesamt 32 Milliarden Menschen – siebenmal die gesamte Erdbevölkerung – werden in den nächsten vier Wochen die Spiele verfolgen. Das globale Dorf ist dem Zauber der Kugel verfallen, während in den USA, wo die Spiele ausgetragen werden, nach wie vor eher dem Football-Ei gehuldigt wird – sowie der Statistik. Sport ist für die Amerikaner eng mit jenem Wust von Zahlen verbunden, mit dem die ständigen Pausen beim Stop-and-Go eines Football- oder Baseballspiels gefüllt werden: Treffer-Quoten, Yard-Gewinne, Laufgeschwindigkeit, jeder Spieler und jeder Spielzug werden in Daten aufgelöst, das ganze Spiel hochgerechnet und analysiert – die Sportseite am nächsten Morgen kann es an Daten und Grafiken mit dem Zahlen- Gewimmel der Börsenkurse aufnehmen. So schräg und eiernd der Football auch fliegen mag, so wüst und chaotisch sich darum geprügelt wird – das Spiel läßt sich bis ins Detail in Statistik auflösen, Fans kennen die Quoten der einzelnen Spieler bis in die dritte Dezimalstelle. Fußball hingegen entzieht sich der statistischen Reproduzierbarkeit, die Zahl der gelaufenen Kilometer und gewonnenen Zweikämpfe sagt wenig bis nichts über die Qualität einer Mannschaft. Ein Maradona kann eineinhalb Stunden auf dem Platz herumstehen und mit zwei Dribblings zum Matchwinner werden – aus der Datenmatrix, die das Fifa Bulletin Board nach jedem Spiel ausgibt, sind solche Qualitäten nicht abzulesen. Die Zahl der Ballkontakte sagt nichts über den Stürmer, der durch ständiges Rennen ohne Ball die Abwehr auf sich zieht, die Aufenthaltszeit in der gegnerischen Hälfte nichts über die Taktik, aus der Tiefe mit langen Pässen zum Erfolg zu kommen. Anders als ein Football-Match, das nach jeder Aktion angehalten wird, wogt ein Fußballspiel dauernd hin und her, es ist im Fluß und als ganzheitliches Geschehen nicht in Einzelaktionen auflösbar. Deshalb werden die statistischen Analysen, die mit der Amerikanisierung des Fernsehens auch in die deutsche Fußballberichterstattung Einzug gehalten haben, in aller Regel mit Gähnen quittiert. Die Zahl der Querpässe, Steilvorlagen und Flanken interessiert allenfalls am Rande, und noch die erfolgreichen Torschüsse können bedeutungslos sein: Ein hochklassiges, spannendes Spiel kann am Ende 0:0 ausgehen, während ein torreiches Schützenfest pure Langeweile verbreitet. Kurzum: Fußball ist mehr als die Summe von 22 Spielern und einem Ball. Und dieses Mehr ist die kugelige Rundheit des Balls – sie ist, wie Herberger richtig erkannte, das Ei des Kolumbus.

Trotzdem werden die Digitalisierer nicht müde, die Unwägbarkeit des Fußballganzen in ihre Datenrahmen zu pressen. Nach den Berechnungen des finnischen Professors Pekka Luhtanen, der sämtliche Spielzüge der letzten Welt- und Europameisterschaften mit einem Computerprogramm analysiert hat, heißt der Titelträger 1994 Deutschland. Wenn da mal nicht ein Hackentrick von Jay Jay Okocha dazwischenkommt...

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