: Medaillen ans Mittelfeld
■ Die Berliner Literaturpreise gingen diesmal an Erica Pedretti und W. G. Sebald
Mit Mitteilungen über veränderte Modalitäten wurden die diesjährigen Lesungen des „Berliner Literaturpreises“ eröffnet, und es bedarf keiner Hellsichtigkeit, der nächsten Veranstaltung 1996 einen ähnlichen Beginn vorauszusagen. Denn die Jury des „Berliner Literaturpreises“ hat sich dieses Jahr selbst ausgetrickst.
Die mit 20.000 Mark dotierten Johannes-Bobrowski-Medaillen erhielten Erica Pedretti und W. G. Sebald – ein überraschender Ausgang der zweitägigen Lesungen im „Literarischen Colloquium“, den die kontroverse Diskussion der prämierten Texte nicht hatte erwarten lassen. Schließlich hatte der sonst so umgängliche Juror Heinrich Vormweg befunden, W. G. Sebald habe mit seinem Romanfragment „Germanistenprosa, natürlich der besten Art“ abgeliefert; die Identitätswechsel des Erzählers mit lebenden und toten Autoren wirkten wie „geliehenes Leben“.
Und Erica Pedretti, die mit „naivem Kalkül“ (Beatrice von Matt) und doch „Claude Simon vergeichbar“ (Andreas Isenschmid) von Reisen in die einstige „Engste Heimat“ in der Tschechoslowakei erzählte, ließ Sigrid Löffler an Sudetendeutsches denken.
Nach erneuter Preiswürdigkeit klang das nicht. Als ein zuverlässiges Barometer der Erwartungen, die die Diskussionen geweckt hatten, können die Wetten gelten, die das im Hintergrund anwesende Personal des Literaturbetriebes abschloß. Es favorisierte Brigitte Kronauer, Jürgen Becker und Reinhard Lettau; weit abgeschlagen vermerkte der Totalisator Hugo Dittberner und Norbert Gstrein. Die beiden Medaillenpreisträger lagen im guten Mittelfeld ...
Wie ist so etwas möglich? Ganz einfach: Der „Berliner Literaturpreis“ will alles sein und alles haben: Konkurrenzlesung und Werkstattgespräch, öffentliches Ansehen und Intimität.
Der von der Preußischen Seehandlung gestiftete Preis ist großzügig dotiert: Die nach Querelen mit den 89er Vergabemodi seit 1992 siebenköpfige Jury (Vormweg, Matt, Isenschmid, Löffler, Caroline Neubaur, Heinz Ludwig Arnold und Reinhard Baumgart) benennt gemeinsam sieben Preisträger, die je 10.000 Mark bekommen. Sie bewerben sich mit der Lesung einer unveröffentlichten Arbeit vor Jury und geladenen Zeitungsjournalisten um zwei Johannes-Bobrowski-Medaillen, die mit je 20.000 Mark dotiert sind. Unangestrengt, sachlich und sehr wohlwollend verlief in diesem Jahr die Diskussion der Texte. In ihrer Mehrzahl handelten sie von Vergangenheiten und entbehrten des ästhetischen oder thematischen Risikos, das Baumgart oder Arnold öfter beschworen. Dittberners „Sentimentale Jagden“ ließen in ihrer Naivität und Zusammenhanglosigkeit nicht nur Baumgart ratlos, und an den erzähltechnischen Schwächen von Gstreins Romanauszügen biß sich die Kritik fest.
Nach Kronauers überraschend endender Erzählung von einer alten Sängerin, die sich gegen die Verluste des Alterns durch eine Selbstinszenierung zu wehren hofft, diskutierte die Jury die Zulässigkeit von Pointen. Bei Beckers nächtlich-elegischer Evokation von kollektiven und individuellen Erinnerungen aus diesem Jahrhundert, dem Langgedicht „Journal der Wiederholungen“, fragte Neubaur, warum dieser „archivarische Sprachraum“ (Matt) einem Subjekt und nicht einer sich erinnernden Landschaft zugehöre. Und Baumgart stellte fest, daß im letzten Teil von Lettaus „Flucht vor Gästen“, einer die „Gastfeindschaft“ (Löffler) umkreisenden Prosa, die bloße Reihung zunehme und der unheimliche Charakter der Dinge anekdotisch zu werden drohe.
Ein Werkstattgespräch aber entstand nur in Ansätzen, obwohl die Juroren den Autoren weit entgegengekommen waren. 1992 hatte der damalige Preisträger Hans Joachim Schädlich der Aufforderung, sich zu Texten seiner Kollegen zu äußern, eine barsche Absage erteilt: er könne in dieser Konkurrenzsituation nicht frei sprechen.
Dieses Jahr nun, verkündete Baumgart am Freitag morgen, würden die sieben Literaturpreisträger mitentscheiden, wer von ihnen die Medaille erhalten sollte. Das klingt folgerichtig und nach allmählicher Emanzipation der Produzenten, ist aber tatsächlich deren Knebelung. Nicht nur werden die unterschiedlichen Funktionen von Kritik und Produktion vermischt, von denen Reinhard Baumgart vorbeugend meinte, sie lägen ja häufig in Personalunion vor; bei einer Preisvergabe ist das wohl eher selten der Fall.
Vielmehr drohte das Zugeständnis der Kritiker, die Kritik zum Verschwinden zu bringen. Mochten die Kritiker auch noch so wohlwollend sein, die Autoren beließen es meist bei vorsichtigen Fragen oder freundlicher Zustimmung. So veränderten sie die Diskussion und schließlich ihr Ergebnis nicht durch Argumente, sondern durch das Nichtgesagte. Mit Ausnahme von Gstrein äußerte sich einzig Lettau mehrmals kritisch. Einmal leitete er seine Bemerkung auf bezeichnende Weise ein: „Also, wenn wir hier jetzt unter uns sind, möchte ich dir sagen...“ So viel liebenswürdige Souveränität beschämt. Jörg Plath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen