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„Tut doch endlich was!“

Links und rechts der Sozialwissenschaftlerbarrikaden wurde in letzter Zeit viel publiziert über die Krise des Sozialstaats und die Zukunft der Arbeit/ Konvergenzen gab es dabei kaum  ■ Von Donata Riedel

Von Heinrich Böll gibt es eine wunderbare Erzählung mit dem Titel: „Es muß etwas geschehen.“ Als Böll 1954 diese Satire über den Fabrikanten Wunsiedel und seine untergeordneten Manager schrieb, steckte die Bundesrepublik mitten im Wirtschaftswunder. Der dem Nichtstun zuneigende Held läßt sich eher widerstrebend von seinem Arbeitsvermittler in Wunsiedels Fabrik schicken. Dort macht er eine Blitzkarriere, denn es kommt allein darauf an, Tatkraft zu demonstrieren. Dazu reicht es, ins Telefon zu brüllen: „Tut was! Es muß etwas geschehen! Es wird etwas geschehen! Es hätte doch längst etwas geschehen sollen!“

Arbeitslosigkeit als Massenphänomen gab es 1954, kaum zehn Jahre nach Kriegsende, nicht. Die deutsche Diskussion über die „Herausforderung der 90er Jahre“, „Lösungsansätze für die Strukturkrise“, und was an dergleichen Wortgeklingel mehr durch den Blätterwald und die Talkshows tönt, erinnert trotzdem an Bölls „Handlungsstarke Geschichte“. Denn wie in Bölls Satire sind sich auch in der aktuellen Debatte die „großen Tiere“ unglaublich einig, daß etwas geschehen muß.

Wer die Sachbücher von Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern dieses Jahres liest, gelangt am Ende nur zu der tristen Erkenntnis: Es kann gar nichts geschehen. Denn auch die universitären Vordenker wissen letztlich nur, daß etwas geschehen müßte, ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, was denn geschehen sollte.

„Es scheint, als wäre die Herstellung von Vollbeschäftigung in Deutschland zu einer Utopie geworden“, schreiben die Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel und Jan Priewe nach einer ausführlichen ökonomischen Bestandsaufnahme des wiedervereinten Deutschlands (Titel: „Nach dem Fehlstart“). „Wir plädieren dafür, an diesem Ziel uneingeschränkt festzuhalten.“ Warum? „Soziale Sicherheit ist ein wertvolles Gut.“ Das „generelle Plädoyer“ von Horst Siebert, einem der Wirtschaftsweisen, („Geht den Deutschen die Arbeit aus?“) kommt im Fazit ebenso schlicht daher: „An allen Ecken und Enden muß am Arbeitsmarkt für mehr Flexibilität gesorgt werden, wenn die Arbeitslosigkeit überwunden werden soll.“

Hickel/Priewe und Siebert ordnen sich damit wieder brav beiderseits der alten Grenze ein: mit „sozialer Sicherheit“ auf der einen und „Flexibilität“ auf der anderen Seite, zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus, zwischen links und rechts mit allen dazugehörigen polit-ideologischen Denk- und Diskussionsblockaden. Entsprechend sind die Literaturhinweise fast komplett unterschiedlich.

Nur ganz vorsichtig wagen sich die Autoren dieser beiden in der Zustandsbeschreibung sehr gründlichen und darum empfehlenswerten Analysen ins ideologische Niemandsland. Wirtschaftswachstum allein schafft nicht genügend Arbeitsplätze, konzediert der Marktliberale Siebert. Der Staat muß etwas tun. Hickel und Priewe verteufeln im Gegenzug Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich nicht; sie erwähnen auch, daß keynesianische Konjunkturprogramme, wie auf der anderen Seite die neoliberalen Reagonomics, zumeist gescheitert sind – was aber letztlich nur an Fehlern bei der Umsetzung gelegen habe. Immerhin erfahren wir bei Hickel/Priewe und bei Siebert, warum es so viele Arbeitslose gibt und warum es schwierig ist, daran etwas zu ändern. Rudolf Hickel, Ökonomie- Professor und Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, und der Volkswirtschaftler Jan Priewe machen sich und ihren Lesern die Mühe, alle wirtschafts-, geld- und finanzpolitischen Zusammenhänge des Einigungsprozesses zusammenzutragen, die zum Industrie-Zusammenbruch im Osten, der Strukturkrise im Westen und zu einer langfristig hohen Arbeitslosigkeit in Ganzdeutschland beigetragen haben.

Hinter dieser umfassenden Betrachtungsweise verliert sich leider am Ende das Versprechen des Untertitels, „Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung“ aufzuzeigen. Im letzten Kapitel verstellt ein seitenlanger Katalog kleinteiliger Empfehlungen an die Politik den Blick auf die Reformperspektive. Die Summe der Teile – Ausweitung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf eine Million, längere ABM-Laufzeiten, neue Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften – so sinnvoll sie sein mögen, fügt sich nicht mehr zum Bild. Das ist um so frustrierender, als die Autoren bei ihren Lesern zuvor die Erwartungen an eine Reformperspektive ganz nach oben geschraubt haben: Außer der Arbeitslosigkeit müsse man endlich auch die ökologische Modernisierung angehen und die Frauenerwerbsquote steigern. Deshalb müßten noch mehr Arbeitsplätze entstehen, als ohnehin schon fehlen. Aber wie?

Horst Siebert hingegen beschränkt sich auf den Arbeitsmarkt, beschreibt, wer warum wie sehr von Arbeitslosigkeit bedroht ist, und empfiehlt einen ganzen Katalog von Flexibilisierungen, aber auch neue Strukturen des Sozialstaates. So regt er an, die soziale Sicherheit nicht mehr einseitig an die Erwerbsarbeit zu koppeln. Der Focus auf das Segment Arbeitsmarkt erhöht bei Siebert die Verständlichkeit. Zurück aber bleibt nach der Lektüre des schwungvoll geschriebenen Buches das dumpfe Gefühl, daß er sich mit einem gewissen Bodensatz dauerhafter Verlierer gut abfinden kann. Müßte man nicht mehr tun?

Wo es Verlierer gibt, lohnt immer auch der Blick auf die Gewinner. Könnte man den Reichen nicht einfach ein wenig wegnehmen? „Was hinter der Krise steckt, wem sie nützt und was von den Politikern zu halten ist“, lockt uns der Sozialwissenschaftler Horst Afheldt zum Lesen seines Buches „Wohlstand für niemand?“ Afheldt stellt fest: Ausgerechnet Politiker und Unternehmer reden von der Krise und fordern energisches Handeln! Aus dieser berechtigten Grundfrage konstruiert Afheldt jedoch nur nach bewährten linken Strickmustern der 70er Jahre eine Verschwörungstheorie der Kapitalisten gegen den Rest den Welt. Als Beleg muß der Unternehmerverbands-Präsident Hans-Peter Stihl herhalten, denn der produziert ja Kettensägen – das Monster.

In weiten Teilen stützt sich Afheldt auf ein Buch des US-Arbeitsministers Robert Reich („Die neue Weltwirtschaft“). Reich sieht die US-Arbeitsgesellschaft in drei Gruppen auseinanderfallen: Produktionsarbeiter, einfache Dienstleister und „Symbol-Analytiker“. Zu letzteren zählt Reich die gesamte Kommunikationsbranche, Künstler, Berater, Manager, Städteplaner und so weiter – all jene Berufe also, die sich im weitesten Sinne mit dem Konstruieren von Wirklichkeit befassen. Sie sieht der US-Arbeitsminister als die Gewinner der wirtschaftlichen Globalisierung, während Produktionsarbeiter und Dienstleister gleichermaßen auf stumpfsinnige Billigjobs zurückgeworfen würden.

Reich kommt es darauf an, die neue Kaste der Globalisierungs- Gewinner an die verarmende Restgesellschaft der USA dauerhaft anzukoppeln – als Steuerzahler und Finanziers. Dazu sei es nötig, bei den „aufgeklärten Kosmopoliten“ ein Gefühl kultureller Verbundenheit und sozialer Verantwortung zu wecken. Für die USA ist das offenbar, anders als in der Erhardschen „sozialen Marktwirtschaft“, ein vollkommen neuer Gedanke. Bei Afheldt mutieren Reichs „Symbol- Analytiker“ flugs zur „kleinen Gruppe von Spitzenmanagern, Weltfirmen und Großkapital“, deren Interesse es ist, „ungehindert ihr Kapital arbeiten zu lassen“. That's left?

Was hierzulande geschehen sollte, erschließt sich wohl noch am ehesten aus einem Vergleich mit anderen Ländern. Stefan Huckemann und Ulrich van Suntum haben im Auftrag der Bertelsmann- Stiftung die Beschäftigungspolitik von 17 Industrieländern der Jahre 1980 bis 1993 verglichen und den jeweiligen Erfolg bewertet. Erfolgreich waren nach dieser Untersuchung alle Länder, die eine aktive Beschäftigungspolitik betrieben und dabei ihren Weg konsequent verfolgt haben. Die „stabilitätsorientierten Marktwirtschaften“ Schweiz, Japan, Deutschland und Österreich seien mit einer Mischung aus tarifpolitischer Vernunft und staatlicher Stabilitätspolitik erfolgreich gewesen, die „aktiven Wohlfahrtsstaaten“ Schweden und Norwegen hingegen mit ihrer Mischung aus aktiver Beschäftigungspolitik und einem engen sozialen Netz. Die Autoren empfehlen ganz schlicht, daß jedes dieser Erfolgsländer am besten beim einmal gewählten Modell bleibt. Die Bundesrepublik, die in den letzten Jahren zum Beispiel mit der Pflegeversicherung zu sehr den Sozialstaat gepäppelt hätte, müsse nun wieder stärker auf Wettbewerb und Flexibilisierung statt auf Wohlfahrt setzen. Eine Empfehlung, mit der sie automatisch rechts im Diskussionsspektrum landen und links vermutlich nicht ernsthaft gelesen werden. Die gute Nachricht von Huckemann/van Suntum: Von außen betrachtet steht Deutschland trotz Rezession sehr viel besser da, als die Stimmung im Lande glauben macht. Allerdings: Die Untersuchung von Huckemann/van Suntum bezieht sich nur auf die Vergangenheit und praktisch nicht auf Ostdeutschland. Offenbar hat also nicht nur die Bundesregierung kein Rezept, was zu geschehen hat im wiedervereinten Deutschland. Auch die Wissenschaftler sind eher mit nach- als vordenken befaßt. Die Denker auf der sozialdemokratischen Seite der Diskussionsbarrikade haben immerhin jüngst einen 120-Stimmen-Chor zusammengebracht, der einen Appell an Politik und Wirtschaft gerichtet hat: „Tut doch endlich was!“ (Aufruf der Sozialwissenschaftler vom 20.5.94: „Solidarität am Standort Deutschland“). Doch der Appell verpuffte.

Wunsiedels Fabrik aus Bölls Satire produziert übrigens unabhängig davon, in wie viele Telefone der Held seine Handlungsanweisungen brüllt. Am Ende dann geschieht tatsächlich etwas. Der Fabrikant Wunsiedel stirbt, und der Held wird auf der Beerdigung als großes Talent entdeckt. Fortan arbeitet er als „berufsmäßig Trauernder“, eine Tätigkeit, bei der Nachdenklichkeit und Muße geschätzt werden. Was wohl in Deutschland geschieht?

Rudolf Hickel/Jan Priewe: „Nach dem Fehlstart, Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung“, Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 1994, 361 S., 36 DM

Horst Siebert: „Geht den Deutschen die Arbeit aus? Neue Wege zu mehr Beschäftigung“. C. Bertelsmann, München 1994, 286 S., 39,90 DM

Horst Afheldt: „Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder“. Verlag Antje Kunstmann, München 1994, 265 S., 39,80 DM

Robert Reich: „Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie“. Ullstein, Frankfurt/M., Berlin 1993, 415 S., 49,80DM

Stefan Huckemann/Ulrich van Suntum: „Beschäftigungspolitik im internationalen Vergleich“, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1994, 197 S., kostenlos

Heinrich Böll: „Es wird etwas geschehen. Eine Handlungsstarke Geschichte“, in: „Nicht nur zur Weihnachtszeit, Erzählungen II“, dtv-Tachenbuch, München 1966

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