: „Italien zeigt: Leiden heißt siegen“
■ Ein Fußballspiel mit erstaunlichem Verlauf: Nach der frühen roten Karte für Torhüter Pagliuca erwursteln sich die Azzurri zu zehnt ein 1:0 gegen lahme Norweger, was die Presse ins Delirium stürzen läßt
Berlin (taz) – Was war das? Intuition? Vabanque-Spiel? Einfach Dusel? Oder ein Fall geistiger Umnachtung? Jedenfalls nahm Italiens Trainer Arrigo Sacchi nach 22 Minuten, als sein Torhüter Pagliuca wegen Handspiels vom Platz geflogen war, Roberto Baggio vom Feld, um Marchegiani als neuen Keeper einzuwechseln. Ausgerechnet Roberto Baggio von Juventus Turin! Der „Weltfußballer des Jahres“, das Idol mit dem Rastazöpfchen, das für seine Kunst sechs Millionen Mark im Jahr bekommt. Der Artist, vom dem Sacchi behauptet, er könne ein Spiel ganz alleine entscheiden.
So unfaßbar war diese Tat, daß der treue taz-Abonnent Jürgen W. die Redaktion dringendst bat, diesen Sachverhalt zu klären: „Das habe ich nicht verstanden!“ Da geht es ihm nicht besser als Roberto Baggio. „Ich dachte zunächst, die falsche Nummer sei gezogen worden. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert.“ Sauer war der 27jährige schon zuvor gewesen, weil sich die Kritik auf seine Person konzentriert hatte: „Immer, wenn etwas schiefläuft, soll ich der Schuldige sein.“ Weshalb er einen „Racheakt“ von Sacchi hinter dessen schändlichem Tun vermutet.
Der jedoch begründete sein Handeln mit wohlwollender Fürsorge dem achillessehnengeplagten Kicker gegenüber: „Ich wollte ihn nicht leiden sehn.“ Sei's drum, vorwerfen wird ihm erst mal keiner etwas: Torhüter verloren, Baresi ausgewechselt (die Bänder im Knie), Maldini am Ende nur noch hinkend (der Knöchel) – und trotzdem gegen die Recken aus Norwegen gewonnen. Nun wird womöglich auch Silvio Berlusconi Ruhe geben, der nach dem Spiel gegen Irland (0:1) gedroht hatte: „Es wird Zeit, daß ich Trainer Sacchi Tips zur Aufstellung gebe.“
Es hatte ja so gut angefangen für die Azzurri. Hübsch lief der Ball durch die hölzerne norwegische Abwehr, Chancen gab's reichlich, der Gegner kam weder zum Denken noch Reagieren. Bis eben nach einem Doppelpaß Leonardsen allein gen Tor entfleuchte und Pagliuca dessen Schuß vor dem Strafraum abwehrte. Keine Frage für Schiedsrichter Krug: rot! Der Sünder nahm's gelassen: „Meine Tat war richtig. Ich habe nur daran gedacht, einen Treffer zu verhindern.“ Danach ging nicht mehr viel bei Italien, aber noch weniger bei den elf Norwegern, über deren kümmerliche Spielversuche Diario 16 dichtete: „Begrenzte Mittel, rau wie die Steilküste eines Fjords.“ Mittelfeldspieler Mykland sah das Unglück gar in der Dezimierung des Kontrahenten: „Rot war für uns eine Strafe, wir können kein Spiel machen.“
Delirierend nach diesem wunderlichen Spiel in New York die italienische Presse, logisch: „Die Reisen sind wir“ (Gazzetta dello Sport); „ein Wunder mit einem heldenhaften Signori“ (Corriere dello Sport); „heroischer Sieg, Baggio geopfert“ (Tuttosport); „mit Mut und Herz zeigt Italien: Leiden heißt siegen“ (Corriere della sera).
Und Arrigo Sacchi war's zufrieden: „Ich werde meine Arbeit so wie bisher weitermachen, auch wenn sie von vielen nicht verstanden wird.“ Was soll auch noch passieren, bei soviel taktischem Geschick: Wenn er gewinnen will, nimmt er künftig einfach seinen besten Spieler vom Platz. thöm
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