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■ Vor den Landtagswahlen in den neuen LändernKein Ort für Rot-Grün

Eine Annahme über die politische Entwicklung im deutschen Osten hatte sich schon bald nach Helmut Kohls Wahlerfolgen 1990 zur tröstlichen Gewißheit verfestigt. Ab nun würde der Abstieg des Einheitskanzlers und seiner Partei beginnen. Selbst die Konservativen schienen damals etwas vom Pyrrhuscharakter ihres Siegeszuges zu ahnen. Die verführerischen Prognosen würden platzen wie ungedeckte Wechsel, Kohls Stellvertreter würden dem großen Frust zum Opfer fallen.

Eine zweite, ebenso sichere Annahme bezog sich auf die tristen Nachfahren der SED. Die jedenfalls schienen nur noch eines veranschaulichen zu wollen: wieviel Angestrengtheit sich selbst noch auf den Prozeß des Verschwindens verwenden ließe.

Heute, unmittelbar vor dem Wahlherbst 1994, fällt es einigermaßen schwer, Verbindung zu den beiden Gewißheiten von damals aufzunehmen. Der Osten jedenfalls steht wieder kopf. Helmut Kohl genießt das Déja vu als Einheitskanzler. Rachegelüste an der Union haben derzeit keine Konjunktur – außer vielleicht am anderen Ende des politischen Spektrums, wo sich die PDS selbstbewußt, aggressiv und in aller inhaltlichen Bescheidenheit als Volkspartei des Ostens etabliert. Während Kohl generös seine kleinen Irrtümer eingesteht und ansonsten die Zuversicht verströmt, das noch nicht Eingelöste komme dann in der nächsten Wahlperiode, propagiert die PDS mit unnachahmlichem Populismus das Gegenteil. Beides kommt an. Warum?

Die Misere im Osten war nie flächendeckend. Der Einheitsgewinner ist ein Massenphänomen. Selbst zwei, drei Millionen Verlierer ändern nichts daran, daß die Prognose „vielen wird es bessergehen“ längst aufgegangen ist. Für Gewinner und solche, die es werden wollen, garantiert die Union die Beibehaltung des Kurses. Selbst für die, die ihre Zukunftsperspektiven eher unsicher einschätzen, wird die Abwahl der Union nicht schon zur zwingenden Konsequenz. Denn mit ihr vollzieht jeder Enttäuschte den individuellen Widerruf, daß sich die Zumutungen des Umbruchs, die alltägliche Enteignung, die Verletzungen und Ängste doch irgendwie gelohnt haben könnten.

Wählen in den neuen Ländern ist eine existentielle Angelegenheit, für viele eine (Selbst-)Bestätigung, doch auf den richtigen Weg gestoßen worden zu sein. Mit der begründeten Ansicht, allein die Konzepte der Union garantierten den Anschluß West, hat das nicht einmal am Rande zu tun. Die Union, vorab ihr Kanzler, repräsentiert einfach die optimistische Perspektive. Das reicht: „Vielen wird es bessergehen.“

Doch der zweite Teil des Einheitsversprechens, „keinem wird es schlechtergehen“, hat sich, nicht nur in materieller Hinsicht, als glatte Täuschung erwiesen. Von ihr zehrt die lange totgesagte PDS. Den vielen Gewinnern stehen genügend Verlierer gegenüber, denen Sicherheit, Status, die Nische oder das DDR-Lebensgefühl kompensationslos abhanden gekommen sind. Arbeitslose, entwurzelte Eliten, Entmachtete, Überforderte und Geächtete, deren Beschädigung unter dem Diktat des Einheitsoptimismus lange als bloße Störung erschien.

Für sie alle macht jetzt die PDS Furore. Ihr Erfolg spiegelt und organisiert zugleich die West-Ost- Spaltung im Osten. Er zeigt, daß mit dem Potential der Verlierer wieder zu rechnen ist. Schon mit dieser Drohung weiß sich die PDS bei ihren Anhängern erschöpfend legitimiert. Sie ist die einzige Partei, die bereits am Wahlabend ihr Wahlversprechen einlösen kann: Repräsentation.

Nur schlichte Gemüter oder gewitzte Propagatoren würden den PDS-Protest als Basis eines linken, toleranten oder intelligenten Politikkonzepts verkaufen wollen. Doch schon im Aufschrei der Politik nach jedem PDS-Erfolg schwinden die Restzweifel der PDS-Wähler an der Sinnhaftigkeit ihrer Wahl.

In Union und PDS haben zwei dominante, konträre Perspektiven auf die Entwicklung im Osten ihre jeweilige Organisation gefunden. Sie schließen sich aus – und stabilisieren sich gegenseitig. Die Zuversicht der Unionsanhänger wird zum Affront für die Perspektivlosen. Deren PDS-organisierter Protest gerät zur Warnung an die Gewinner. Dazwischen bleibt wenig Raum.

Das erlebt derzeit die SPD, der ja jetzt, im Herbst 94, die Führungsrolle in den neuen Ländern zufallen sollte. Mit der Polarisierung zwischen Einheitszuversicht und offensivem Frust wird die SPD um ihren Erfolg gebracht. Denn die beiden Konkurrenten bieten klares Profil. Dazwischen probt die SPD angestrengt Differenzierung. Dabei verschwimmt, wofür sie steht. Probt sie die harte, rückhaltlose Opposition, schwindet ihre Attraktivität bei den Zuversichtlichen. Schmiegt sie sich an den Einheitsfortschritt, macht sie sich als Vertreterin der Zurückgebliebenen unmöglich. Das eine garantiert der Union, das andere der PDS die Wählerstimmen. Die SPD pendelt irgendwo dazwischen.

Das macht sich in Zahlen ja gar nicht so dramatisch. Gemessen am Tiefpunkt 1990, liegen die Zugewinne der SPD etwa bei fünf Prozent. Doch für die Beurteilung geben nicht die alten Ergebnisse, sondern die alten Erwartungen den Maßstab ab. Was darunter bleibt, gerät zur Niederlage.

Das wird eine Weile so bleiben. Mit einer Zwanzig-Prozent-PDS ist für die SPD die Rolle der dominanten Kraft nicht in Sicht – Ausnahme Brandenburg, wo sie bereits 1990 den Wählern mit Manfred Stolpe ein einmaliges Identifikationsangebot machen konnte. Am Sonderfall Brandenburg wird auch klar, woran es der SPD im Osten außer Profil sonst noch mangelt: an personifizierter Nähe zur guten, schlechten Vergangenheit. Die Union hat gegen alle Vorbehalte die Blockpartei integriert. In der PDS organisieren SEDler den Erfolg. Die SPD dagegen ist eine saubere, aufrechte Neugründung des oppositionellen Wende-Herbstes. Zu aufrecht für den erfolgreichen Neubeginn?

Diese Frage werden sich auch die Bürgerrechtler stellen. Für sie bedeutet die schwache Zustimmung der Wähler sowie die Renaissance der PDS die zweite große Niederlage nach 1990, als die Westparteien der Runden-Tisch- Kultur ein Ende bereiteten. Zusammen mit der SPD bleiben die Bündnisgrünen in den neuen Ländern unter der Vierzigprozentmarke. Weder in Sachsen-Anhalt noch in Mecklenburg-Vorpommern, wo bis vor kurzem der Machtwechsel fest eingeplant war, hat Rot-Grün eine Chance.

Weil ein Bündnis mit der PDS zu den unumstößlichen Tabus gehört, weil andererseits auch die PDS sicher weiß, daß die Übernahme von Regierungsverantwortung das Dementi ihrer so erfolgreich markierten Oppositionsrolle bedeuten würde, beginnt im Osten jetzt die Ära der Großen Koalition. Es gehört zur Ironie der politischen Entwicklung in den neuen Ländern, daß die Formierung der PDS als Sachwalterin des Protestes eine Konstellation forciert, in der der parlamentarischen Opposition bis auf weiteres nur eine schmale Rolle bleibt. Matthias Geis

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