Keiner weint Tsutomu Hata nach

Nach dem Rücktritt des Premierministers zeichnen sich in Tokio komplizierte Koalitionsverhandlungen ab / Außer den Kommunisten kommen alle Parteien für eine Regierung in Frage  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Wenn ein Premierminister zurücktritt“, wunderte sich die japanische Tageszeitung Nikkei, „herrscht zumeist Trauerstimmung.“ Doch davon war am Wochenende weder im Tokioter Regierungsviertel Kasumigaseki noch anderswo in Japan etwas zu spüren. Die von den Medien registrierten Stimmen aus dem Volk zeugten allenthalben von Desinteresse. Folglich verzichteten die Fernsehanstalten auf Sondersendungen, schärfere Krisentöne wurden gar nicht erst angestimmt. Als sei nichts geschehen, trafen sich die Regierungspolitiker, die eigentlich gar keine Regierung mehr stellen, zur sonntäglichen Plauderrunde am Kabinettstisch. „Die Japaner reagieren mit dem gleichen Interesse, als wenn bei einer beliebten Fernsehserie der Hauptdarsteller wechseln würde“, empörte sich Nikkei. Aber war nicht gerade das die angemessene Reaktion?

Schließlich bewahrheiteten sich am Samstag nur die Voraussagen, die Tsutomu Hata schon bei seinem Amtsantritt vor zwei Monaten begleitet hatten: daß seine Minderheitsregierung nämlich die kurzlebigste der Nachkriegszeit sein würde. Schon seit Wochen war das Szenario, das mit Hatas Rücktrittsankündigung am Samstag einsetzte, allen politischen Akteuren wohlbekannt. Nun würden erneut mühselige Koalitionsverhandlungen unter den Parteien folgen, zwischen denen eine Regierungskoalition derzeit denkbar ist. Das sind mit Ausnahme der Kommunisten alle zehn im Parlament vertretenen Parteien. Einziges Ziel dieser Gespräche ist es, statt der bisherigen Minderheits- eine Mehrheitsregierung zu bilden. Setzt man die Erfahrungen nach dem Rücktritt von Premierminister Morihiro Hosokawa im April voraus, nimmt der erneute Selektionsprozeß unter den Parteien mehrere Wochen in Anspruch.

Wer nun demnächst Japan regiert, erscheint vor dem Hintergrund des Parteiendurcheinanders als eine Frage reiner politischer Arithmetik. Es geht darum, hinter einem Spitzenkandidaten genügend Stimmen zu versammeln. Parteigrenzen spielen für die Wahl der möglichen Koalitionspartner nahezu keine Rolle mehr. „Ich überlasse die Wahl des künftigen Regierungschefs dem Parlament“, empfahl sich Tsutomu Hata aus seinem Amt. Er hätte auch sagen können: Nach mir das Chaos.

Wenn die Japaner darauf trotzdem gelassen reagieren, hat das vor allem einen Grund, der in der Vergangenheit liegt: Die Unübersichtlichkeit der neuen Parteienlandschaft ist den meisten Bürgern immer noch lieber als das Regierungsmonopol der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan von 1955 bis zum August vergangenen Jahres ununterbrochen regierte. Viele betrachten die fortwährenden Regierungskrisen als notwendige Übergangszeit. Dabei bietet das Auftreten der heutigen LDP den eigentlichen Anlaß zur weitverbreiteten Sorglosigkeit: denn so zerstritten wie die einst allmächtige Regierungspartei derzeit ist, wird ihr Comeback von den meisten Beobachtern grundsätzlich ausgeschlossen. Wie immer auch der neue Premierminister heißt, würde also der historische Regierungswechsel vom letzten Jahr nicht rückgängig gemacht werden.

Die Parteinahme im Parteienstreit fällt den Japanern aber auch deshalb so schwer, weil nach einem Jahr Koalitionsregierung grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den politischen Gegnern kaum mehr zu erkennen sind. Längst haben sich auch hartgesottene Liberaldemokraten in ihren öffentlichen Auftritten dem populistischen Reformdiskurs der Regierenden angeschlossen. Allen Parteien geht es nun gleichermaßen darum, den Lebensstandard des einfachen Angstellten aufzubessern, dessen Interessen – Häuslebau und Familienleben – unter dem politischen Diktat der Wirtschaftslobbys bisher immer zu kurz gekommen sind. Tatsächlich zwingt ein im Januar verabschiedetes neues Wahlgesetz die Parteien, vor allem in den Städten neue Wählerschichten anzusprechen. Weil die Parteien bislang keine ausgereiften Strategien in Richtung dieser Wählerschaften haben, waren Neuwahlen im Zusammenhang mit Hatas Rücktritt undenkbar.

Als wahrscheinlicher Ausweg aus der Krise galt somit die Fortführung der bisherigen Koalitionsregierung mit der erneuten Beteiligung der Sozialdemokraten (SDPJ), die erst im April die Regierung verlassen hatten. Dabei könnte sogar Hata als Premierminister ein zweites Mal bestätigt werden. Ebenso vorstellbar ist jedoch ein weiterer Auflösungsprozess der Altparteien LDP und SDPJ, welcher den Koalitionsparteien mit der Hilfe von Überläufern das Weiterregieren ermöglichen könnte.

„Ein Parteienkonsens über Außen- oder Wirtschaftspolitik ist nicht mehr Bedingung für die Bildung einer Koalitionsregierung“, stellte der Politologe Naoki Tanaka nüchtern fest. Er tat das mit dem sicheren Gewissen aller Japaner, daß die mächtige Elitebürokratie des Landes beim Versagen der Politik noch immer die Kontinuität zu wahren wußte.