: Fremde Wesen vom roten Stern
■ Kasernentor zu, Russe weg: Bei der Abschiedsparade für die russischen Soldaten schwang eine spezifische DDR-Verklärung unter der roten Fahne mit
Schön sahen sie ja nicht gerade aus, die Karpfen und Hechte, die die in der Nähe meines Heimatdorfes in Sachsen stationierten Russen fingen und an der Tür zum Verkauf anboten. Die armen Tiere waren von Handgranaten so zerfetzt, daß keine Gräte heil geblieben war. Meine Mutter kaufte den armen Russen jedes Mal die geschundenen Tierkadaver ab, um sie dann im Abfalleimer zu entsorgen. Ich fragte sie damals, warum sie für etwas Gelde ausgebe, was sie dann wegschmeiße. „Aus Mitleid“, antwortete meine Mutter immer.
Eingesperrt in Kasernen waren sie für uns – trotz obligatorischem Russischunterricht, „freiwilliger“ Pflichtmitgliedschaft in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und offiziellen Freundschaftstreffen – wie Wesen von einem andern (roten) Stern. Persönliche Kontakte, die über den Austausch politischer Statements hinausgingen, gab es kaum – Kasernentor zu, Russe weg.
Bei der Abschiedsparade der Westgruppe der russischen Alliierten am Samstag in Karlshorst dagegen wurde den Russen nachgetrauert, als gingen echte Freunde. Nicht einmal über den netten Orthographiefehler auf einem russischen Doswidanja-Transparent, auf dem von „Haimat“ die Rede war, durfte geschmunzelt werden. Es war weniger die deutsch-sowjetische Freundschaft, die am Samstag zu Grabe getragen wurde, sondern eher ein letztes Stückchen DDR-Verklärung unter der roten Fahne.
Begegnungen mit dem „großen Bruder“ in Gestalt von kurzgeschorenen jungen Männern in verdreckten Uniformen vor unserer Haustür waren eher die Ausnahme. Die „kleinen Brüder“ des „großen Bruders“ waren in meinen Kinderaugen mehr ungeschickte Fischer denn Beschützer des ersten Arbeiter-und-Bauernstaats auf deutschem Boden. Zu meiner Mutter schaute ich damals beeindruckt auf, weil sie den „Armen“ half.
Wenig später, als etwa 14jährige Schülerin, konnte ich sogar so weit auf „Tuchfühlung“ mit den Russen gehen, daß ich Einblick in jede Pore ihrer ausrasierten Nacken bekam.
Der volkseigene Betrieb im Ort stellte schöne rote Ziegelsteine her. Da die ständige Überübererfüllung der Fünfjahrespläne unproportional zu den vorhandenen Arbeitskräften und deren Arbeitseinstellung war, besann sich die Betriebsleitung auf die Russen: im Rahmen der deutsch-sowjetischen Freundschaftsbande arbeiteten sie bei freier Kost und Logis umsonst, was sie nicht einmal ungern taten. So kamen sie wenigstens einmal aus ihrem Kasernenghetto raus.
Zur Bewirtung der Alliierten- Arbeitskräfte wurden noch Leute gesucht, die – ebenfalls umsonst – den neugewonnenen Ziegelbrennern das Essen servierten. Als gute Pionierin überlegte ich nicht lange. Es war aber weniger die Pflichterfüllung als die Neugierde auf diese verhärmt und traurig aussehenden Gesellen.
Etwa 30 junge Männer schlürften mit Alulöffeln ihre Suppe und blickten hin und wieder mit ihren dunkel umränderten Augen über den Tellerrand hinaus. Ich konnte ganz deutlich den starken Geruch nach Schweiß, Ziegelstaub und derbem Stoff ihrer Uniformen riechen, die sie auch zum Arbeiten tragen mußten. Vor lauter Aufregung goß ich gleich dem ersten die heiße Suppe über die Hose, und vor Schreck vergaß ich mein ganzes Schulrussisch.
Ohne sich auch nur die Hände zu waschen, legten sie sich in einer der großen Produktionshallen zum Schlafen auf den harten Boden. Zum Glück griff an diesem Abend keiner der zahlreichen Feinde der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft an. Die dreißig „kleinen Brüder“ im Ziegelwerk hätten ihre Pflicht glatt verschlafen und statt mit Kalaschnikows zu schießen nur mit Ziegelscheinen werfen können.
An dem Märchen vom „großen Bruder“, der zum Schutz des ersten Arbeiter-und-Bauernstaates zu uns gekommen war, zweifelte ich damals genauso wie an der Echtheit der Tränen am Samstag in Karlshorst. Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen