: „Bescheidenheit ist eine Zier“
Bereits vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft kommt Kritik auf / Von heute an dürfen Kohl, Kinkel und die anderen BonnerInnen die Brüsseler Tagesordnung bestimmen ■ Aus Brüssel Alois Berger
Auch wenn es in den letzten Tagen manchmal den Anschein hatte: Kohl wird nicht Präsident von Europa und Kinkel auch nicht. Der Vorsitz im Europäischen Rat, den die Bundesregierung heute für ein halbes Jahr übernimmt, ist ein rein organisatorisches Amt, das danach an die Franzosen weiterrotiert. Sechs Monate lang dürfen die deutschen Minister in Brüssel die Tagesordnungen für den Ministerrat vorgeben. Doch wenn es um Verordnungen und Richtlinien – also Entscheidungen über europäische Gesetze – geht, dann hat die Bundesregierung auch im kommenden Halbjahr nicht mehr zu sagen als sonst.
Der Einfluß der Präsidentschaft liegt in erster Linie in der Auswahl der Themen und in der Energie, mit der diese Themen zu einem gesetzesreifen Beschluß geführt werden. Die Belgier beispielsweise, die im zweiten Halbjahr 1993 den Vorsitz führten, haben bis zu fünf Ministerratssitzungen pro Woche angesetzt und es mit großem diplomatischem Geschick verstanden, Kompromisse auszuarbeiten, auf die sich letztendlich alle 12 Regierungen einigen konnten. Die anschließend führenden Griechen haben den Ministerrat nur noch zwei- bis dreimal wöchentlich einberufen und genügend Themen für die Nachfolger übriggelassen.
Für die deutsche Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung vor allem die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie die Förderung des Friedens und der Inneren Sicherheit angekündigt. Übersetzt in die Aufgaben und Möglichkeiten der Präsidentschaft, heißt das, daß beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt bei jedem Wirtschaftsministerrat die elf Kollegen aus den anderen Ländern bedrängt, endlich die Arbeitsgruppe zur Deregulierung – sein Steckenpferd – einzurichten. Die soll dann nationale wie europäische Gesetzbücher nach Möglichkeiten durchforsten, die Gesetzgebung zum Nutzen der Wirtschaft zu liberalisieren. Anregungen für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, wie sie etwa von Delors gefordert wird, sind von der derzeitigen Bundesregierung auch auf europäischer Ebene nicht zu erwarten. Auch die Umweltpolitik wird unter deutscher Präsidentschaft keinen allzu großen Sprung nach vorn machen. Umweltminister Klaus Töpfer will bald einen neuen Entwurf für eine Verpackungsrichtlinie vorlegen und seine Kollegen zu überzeugen versuchen, daß Wiederverwertung international gelöst werden müsse. Den letzten Entwurf hat Töpfer gerade noch abwehren können – er verlangte, daß die Bundesrepublik ihren Müll im eigenen Land recyceln muß.
Die Förderung der inneren Sicherheit in Europa wird in den Händen von Innenminister Manfred Kanther liegen, der seine elf Kollegen drängen wird, die grenzüberschreitenden Möglichkeiten der Polizei endlich auszuweiten und eine besser abgestimmte restriktive Asylpolitik durchzusetzen.
Außenminister Kinkel hat bis vor kurzem besonders die enge Abstimmung mit Frankreich hervorgehoben, das die Präsidentschaft im Anschluß an die Deutschen übernehmen wird. Es gibt bereits gemeinsame Arbeitsgruppen, die Reformvorschläge für die Regierungskonferenz 1996 ausarbeiten. Dann sollen die Maastrichter Verträge überprüft und verbessert werden. In erster Linie geht es dabei um die Vorbereitung der Währungsunion und um die Anpassung der Entscheidungsstrukturen an die von 12 auf voraussichtlich 16 Mitglieder erweiterte EU. Nach den erfolgreichen Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Norwegen, Schweden und Finnland will Kinkel jetzt die Annäherung der Mittel- und Osteuropäischen Reformstaaten an die Europäische Union vorantreiben.
Noch nie wurde vor einer halbjährigen Ratspräsidentschaft soviel Wirbel gemacht. Noch nie hat eine Regierung für ihre Präsidentschaft soviel Schaffensdrang angekündigt, und noch nie wurde eine Regierung kurz vor dem Start von den anderen so deutlich zu mehr Bescheidenheit ermahnt. Der Eklat auf dem EU-Gipfel am Wochenende auf Korfu, wo sich die Regierungschefs nicht auf einen Nachfolger für Jacques Delors an der Spitze der EU-Kommission einigen konnten, wurde auch im Auswärtigen Amt als Zeichen für tieferliegenden Unmut in einigen Nachbarländern gewertet. Der Protest etlicher Nachbarn gegen die deutsch-französische Bevormundung ist angekommen.
Das federführende Außenministerium hat in den letzten Tagen Zurückhaltung gelobt und die leiseren Töne geübt. Aber das ist gar nicht so leicht, weil der parteipolitisch angeschlagene Außenminister die internationalen Auftritte in seinem Wahlkampfprogramm fest eingeplant hat. Aber vielleicht ist es auch Zufall, daß Kinkel drei Wochen vor der Bundestagswahl ein Treffen der EU-Außenminister mit denen der Asean-Staaten Ende September eröffnen wird, und vielleicht gab es woanders auch keine freien Räume, so daß das Ganze in Kinkels Wahlkreis in Karlsruhe stattfinden muß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen