PDS nutzt schwaches Profil der SPD geschickt aus

■ Rolf Reißig, vor 1989 einer der führenden SED-Reformer und heute Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des SPD-Vorstands, über die Berührungsängste der SPD

taz: Herr Reißig, die Debatte in der SPD über ihr Verhältnis zur PDS ist seltsam unentschieden, einerseits heftig, andererseits übervorsichtig. Gerade bei der Frage, ob sich die Partei auch ehemaligen SED-Mitgliedern öffnet, gewinnt man den Eindruck, daß die SPD das gern tun möchte, aber sich nicht so richtig traut.

Rolf Reißig: Für mich vollführt die SPD einen Eiertanz. Den kann man zwar seit langem beobachten, aber jetzt wird er so richtig deutlich. Die SPD hat einfach kein Konzept, wie sie mit Reformsozialisten, also auch mit ehemaligen SED-Mitgliedern, umgehen soll. Kommt die jetzige Diskussion zu spät?

Zu spät ist das nie, aber dennoch: Es ist schon sehr viel Zeit verlorengegangen. Historisch läßt sich das wie folgt erklären: Der Umbruch 1989, als die SED abtreten mußte, hat auch die SPD verunsichert. Sie war darauf nicht vorbereitet, hatte kein Konzept. Sie scheute sich, den Dialog mit den Reformern aus der SED zu suchen, sie vergaß, welche inneren Auseinandersetzungen in der SED stattgefunden hatten.

Sie waren einer der ganz wenigen SED-Reformer, die schon zu DDR-Zeiten mit Oppositionellen geredet haben. Sie selbst hatten sogar einen öffentlichen Auftritt zusammen mit Jürgen Fuchs in der Bundesrepublik. Gab es solche vorsichtigen Annäherungsversuche in der Wendezeit auch seitens der ostdeutschen Sozialdemokraten?

Nein, überhaupt keine.

Für diese Berührungsängste der Ost-SPD, einer Partei, die aus der Opposition gekommen ist, gab es natürlich auch gute Gründe. Verstehen Sie die?

Die sind für mich, wenn auch begrenzt, schon nachvollziehbar. Die SED war 1989 erledigt, sie hatte jede Legitimation verloren. Außerdem war da der argumentative Druck der Konservativen, die SPD hätte mit ihren vielen Kontakten vor 1989 die SED stabilisiert. Dazu kommt, daß die ostdeutschen Sozialdemokraten einen ganz anderen biografischen Hintergrund haben als die SED- Reformer. Vergessen darf man natürlich auch nicht, daß wir, die reformsozialistischen Kräfte, es nicht vermocht haben, den wirklich strukturellen Bruch mit der SED zu vollziehen.

Sehen Sie in der gegenwärtigen Debatte in der SPD ein wirkliches Umdenken? Oder andersherum gefragt: Würde die SPD diese Diskussionen auch führen, wenn die PDS im Osten nur fünf, sechs Prozent hätte?

Die würde sie überhaupt nicht führen. Die SPD würde sich bestätigt fühlen, daß neben ihr, außer Bündnis 90/ Die Grünen, keine andere Partei eine Chance hätte.

Hat die SPD noch eine ernsthafte Chance, sozialdemokratisch orientierte PDS-Mitglieder oder ehemalige SED-Mitglieder an sich zu binden?

Die strategische Schwäche der SPD im Osten ist ihr mangelndes Profil. Das nutzt die PDS geschickt aus. Da werden die Sozialdemokraten kurzfristig nichts mehr rumreißen können. Das wird länger dauern.

Wie groß sind denn Ihrer Meinung nach die Gemeinsamkeiten von Reformsozialisten aus der SED und den Sozialdemokraten?

Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten, ohne daß man sich deswegen gleich verbrüdern muß: gesamtdeutsches Reformprojekt zur Neugestaltung der Einheit, die Ökologisierung und Zivilisierung der Gesellschaft sowie, ganz unmittelbar, die Abwahl Kohls.

Im November 1993 waren Sie Gastredner auf dem SPD-Parteitag in Wiesbaden. Sie selbst waren davon überrascht und überlegten, ob ihr Auftritt der SPD zuzumuten sei. Wolfgang Thierse hat Ihnen unter vier Augen diese Bauchschmerzen ausgeredet. Empfinden Sie es als schizophren, wenn sich die Partei öffentlich dann so schwer tut?

Das ist schon sehr eigenartig. Aber, bei allem Verständnis, das Dilemma hat sich die SPD selbst zuzuschreiben. Interview: Jens König