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Der veränderte, touristische Blick

„La Germania“ im Kopf, Italien im Herzen? Interview mit der italienischen Autorin Marcella Continanza über die Reisebeziehung der Italiener zu ihrer südlichen „Heimat“  ■ Von Franco Foraci

taz: Welche Bedeutung hat für dich das Reisen?

Marcella Continanza: Reisen ist ein bewußtes Zurücklassen eines Stücks unmittelbarer Vergangenheit, gepaart mit dem ritualisierten Mut, sich in ein kontrolliertes Abenteuer zu begeben. Wer reist, will etwas anderes, etwas Neues erleben und mit seinen Sinnen erfassen, um seinem Alltag zumindest für kurze Zeit entfliehen zu können. Auch wenn das „Neue“ oft immer wieder dasselbe darstellt, weil man jahrelang zu den gleichen Orten fährt, die gleichen Reisegewohnheiten pflegt oder mit den gleichen Menschen zusammen ist.

Mein Beruf – ich bin seit dreißig Jahren Journalistin – hat mich zur Arbeitsnomadin gemacht. Die Reisen, die ich mache, haben meistens einen „dienstlichen“ Hintergrund: Interviews führen, Reportagen schreiben, Berichte fertigen etc. In andere Städte oder Länder zu fahren ist für mich zur Gewohnheit geworden. Oft ist das einzige Abenteuer dabei der Streß. Trotzdem oder gerade deswegen packen mich immer wieder besondere Emotionen, wenn ich nach Italien fahre und die Umgebung wiedersehe, in der meine ersten familiären Wurzeln sind.

Du hast ein Haus in Castellammare di Stabia nahe Neapel. Wie oft machst du dort Urlaub?

Früher nur höchstens einmal, seit einiger Zeit konsequent zweimal im Jahr, im Sommer und im Winter.

Ist das Heimweh? Was zieht dich von Frankfurt am Main, wo du seit fast zehn Jahren lebst und arbeitest, so regelmäßig in die neapolitanische Provinz?

Das immer gleiche und spannende Gefühl der Vertrautheit. Ich will meine Familie sehen, meine alten Freunde aus dem Süden wiedertreffen und meine schönsten Erinnerungen wachrufen. Mit Heimweh aber läßt sich das nicht erklären. Italien fehlt mir in meinem freiwilligen Exil Deutschland nicht. Frankfurt ist eine offene, wahrlich europäische, tolerante Stadt, die jeden Zuwanderer herzlich aufnimmt und seine Nostalgie für die Heimat schnell vergessen läßt.

Es ist ja das Eigenartige, daß ich es, wenn sich mein Urlaub in Italien dem Ende zuneigt, wie ein kleines Kind kaum erwarten kann, wieder deutschen Boden zu betreten. Ich gebe zu, ich vermisse hier oft die Phantasie und das ausgeprägte Solidaritätsempfinden, die den Italienern eigen sind. Alles andere, die Offenheit, die correctness, die multikulturelle Ausrichtung der Frankfurter schätze ich dafür um so mehr.

Ich habe meine Wurzeln von der ersten „Heimat“ nicht gekappt, viel eher habe ich sie bis nach Deutschland verlängert und ernähre sie, so gut es geht, von beiden Seiten. Meine Italienaufenthalte sind also – im positiven Sinn – gelebte Vergangenheitsbewältigung.

Als Kultur- und Wirtschaftsredakteurin des „Corriere d'Italia“ hast du sehr viel Kontakt mit emigrierten Landsleuten. Mit welchen Empfindungen treten sie den Heimurlaub an?

Bei meinen Recherchen werde ich oft von Landsleuten zum Essen nach Hause eingeladen. Dort erlebe ich immer wieder, daß sie ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Heimat haben. Sie erzählen stolz über ihre Region, Sizilien, Sardinien, Kalabrien, Venetien, Apulien usw. und tischen die Spezialitäten ihrer Provinz auf. Sie reden über ihr Haus in Italien, über ihre Traditionen, ihre Gewohnheiten, die sie aus der Heimat mitgenommen haben.

Ihre emotionelle Bindung zu unserer Halbinsel ist groß, aber ihre Gefühle sind zwiespältig: Sie hassen und lieben gleichzeitig das Land, das sie oder ihre Eltern zum eigenen Überleben verlassen mußten. Viele sagen mir, sie würden eigentlich nur noch als Touristen nach Italien fahren. Die Häuser, die sie sich irgendwann als Standbein für eine endgültige Rückkehr gebaut hatten, werden bei fast allen zu Feriendomizilen umfunktioniert, zum Teil sogar auch als Bungalows vermietet. So werden die Folgen gestiegener Lebenshaltungskosten hierzulande gemildert.

Dient der Urlaub in der Heimat also nicht mehr der Illusion, die freie Option zur jederzeitigen Rückkehr zu haben?

Wenn ich frage, warum sie sich nicht mehr wie früher eine neue Existenz in Italien aufbauen wollen, sagen alle: „Wir sind Fremde im eigenen Land geworden. Wir würden es nicht mehr schaffen, uns in die italienische Gesellschaft zu integrieren.“ Aus zwei Gründen: zum einen wegen der mit den Jahren verlorenen Sprachkenntnisse; zum anderen, weil viele es ablehnen, sich wieder mit einem verheerenden Gesundheitssystem zu arrangieren und die übertriebene Bürokratie italienischer Ämter zu ertragen. Die Italien-Nostalgie findet selbst bei der älteren Generation an genau diesen Punkten ihre Grenze.

Das Italien, zu dem sie früher noch einmal finden wollten, bekommen sie jetzt im Fernsehen über Parabolantenne. An die Stelle der Illusion der Rückkehr ist mit dem Medienzeitalter die Illusion des „Italien ist ja überall“ getreten. Die alten Bilder über Italien im Kopf der Leute werden von Showmastern wie Pippo Baudo und Alba Paretti wunderbar simplifizierend bestätigt: die schöne Mode, die billigen Preise für Obst und Gemüse, die tollen Sehenswürdigkeiten – sie entwickeln zunehmend den touristischen Blick. Die Veränderungen der italienischen Wirklichkeit betrifft sie nicht mehr. Interview: Franco Foraci

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