: Die hohe Kunst des Nichtstuns
■ Beim 3:2 gegen die Niederlande besticht Brasiliens Romario durch Passivität und verhindert eine Europameisterschaft
Dallas (taz) – Eigentlich kennt Stan Valckx seinen Gegenspieler im WM-Viertelfinale, den Brasilianer Romario, aus gemeinsamen Eindhovener Zeiten wie seinen Fußballschuh. Aber daß der kleinwüchsige Stürmer auch Tore vorbereitet, wenn er gar nichts tut, dürfte selbst ihm neu gewesen sein.
Gewissenhaft hatte der niederländische Verteidiger anfangs Romario bewacht, ihm beständig den Ball, den Fuß oder was er sonst so traf, weggetreten und wesentlich zum 0:0 bei Halbzeit beigetragen. Doch dann besannen sich die europäisierten Südamerikaner plötzlich, daß es nicht nur Kurzpässe und Flanken gibt, sondern auch lange, steile Bälle.
Einen solchen, von Aldair geschlagen, erlief sich Bebeto, indem er Jan Wouters wie einen gebrauchten Besenstiel stehenließ, flankte zur Mitte und Valckx konnte nur zuschauen, wie Romario den Ball in der 52. Minute ins Netz beförderte.
Was jedoch zwölf Minuten später geschah, rief nicht nur bei ihm basses Erstaunen vor. Wieder flog ein Steilpaß in die niederländische Hälfte, doch Romario, der dort einsam herumstand, kümmerte sich gar nicht darum, spazierte gemütlich Richtung Mittellinie und signalisierte dadurch eindeutig, daß er nicht die mindeste Absicht hatte, ins Spiel einzugreifen. Passives Abseits also, wie der Linienrichter korrekt erkannte, der daher die Fahne unten ließ.
Leider hatten Hollands Abwehrspieler offenbar noch nichts von dieser Regel gehört und während sie ihre Blicke, entgeistert auf den Pfiff wartend, vom Schieds- zum Linienrichter und zurück wandern ließen, schnappte sich Bebeto den Ball, umspielte Torwart Ed de Goej und schoß das 2:0.
Erstaunlicherweise half dieses scheinbar entscheidende Tor nicht den Brasilianern. Für die Holländer, die vorher sehr zurückgezogen gespielt und vorn ihre ganze Hoffnung auf Bergkamp gesetzt hatten, gab es nun nichts mehr zu verlieren, und die bis dahin klar dominierenden Brasilianer ließen ihre Konzentration leichtfertig fahren.
Das taktisch bestimmte Mittelfeldgerangel wandelte sich zu einem packenden, rasanten und würdigen Viertelfinale, in dem das Unglück den Südamerikanern schon wieder wie bei den letzten drei Weltmeisterschaften unbarmherzig nachstellte. Bereits zwei Minuten nach Bebetos Tor hatte Bergkamp nach einem Einwurf unversehens freie Bahn und erzielte den Anschlußtreffer. Die orangegewandeten Fans, bereits in postweltmeisterliche Depressionen verfallen, waren elektrisiert, erwachten zu neuer Phonstärke und witterten wie ihre Mannschaft die Sensation.
Panik brach nun aus bei den einzigen noch im Turnier befindlichen Nichteuropäern, die plötzlich den Horror ihrer fußballerischen Vorfahren im Nacken spürten. Hatten sie vorher ruhig und furchtlos gespielt, schlugen sie nun wild die Bälle weg und verloren die meisten Zweikämpfe, wobei ihnen zupaß kam, daß Schiedsrichter Badilla aus Costa Rica ihren robusten Stil duldete und seine Karten hütete wie eine Autogrammsammlung von Maradona. Wohl zum ersten Mal in seiner Karriere sah Wouters erst in der 89. Minute gelb.
Ruud Gullit wird sich geärgert haben am Fernsehschirm. Dieses Match bei angenehm kühlen Temperaturen in der sonst so glühenden Cotton Bowl hätte ihm Spaß gemacht, besonders als Aron Winter in der 76. Minute den Ausgleich köpfte. Und mit Gullit hätten die Niederländer vielleicht sogar gewonnen. Die brasilianische Abwehr schwamm beträchtlich, nur ein Bergkamp reichte jedoch nicht, sie endgültig unterzutauchen.
Stattdessen zahlte sich für den von den eigenen Fans wie immer ausgepfiffenen Trainer Carlos Alberto Parreira der Platzverweis Leonardos gegen die USA aus. Der für den gesperrten Rabauken ins Team gekommene Branco steuerte die bislang arg vermißte Schußgewalt bei, besonders bei seiner Spezialität, den Freistößen.
Während der andere Fachmann in dieser Beziehung leer ausging, Ronald Koeman nämlich, der sich nach dem Wegfall von Gullits haarigem Einfluß inzwischen den Kopf fast kahlscheren muß, um im niederländischen Team noch die kürzeste Frisur zu haben, wuchtete Branco in der 81. Minute den siegbringenden Freistoß aus zwanzig Metern an den Innenpfosten. Tragisch für die wackeren Niederlande, aber ein Gewinn für die Freunde jenes Zauberfußballs, der nach Meinung von Trainer Parreira längst tot ist, sich in seinem Team aber immer energischer Bahn bricht.
Die Europameisterschaft auf amerikanischem Boden behält ihre Wild card aus Brasilien. Matti Lieske
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen