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Wem gehört der deutsche Widerstand?

Gedenkfeiern zum 20. Juli 1944 im Spiegel der bundesdeutschen Geschichte / Schon früh eigneten sich Konservative das Thema an / Widerstand und „Halten der Front“ in Nazi-Deutschland wurden als gleichwertig gewürdigt  ■ Von Regina Holler

„Unser nationales Selbstverständnis hat seinen festen Grund im geschichtlichen Erbe unseres Vaterlandes mit seinen Belastungen, aber auch den großen Traditionen, aus denen wir gewissensbildende Kraft schöpfen.“ Helmut Kohl, wie gewohnt um Sinnstiftung bemüht, 1984 in seiner Gedenkrede zum 20.Juli. Es ist zu befürchten, daß der Kanzler auch am 50. Jahrestag aus dem gescheiterten Attentat auf Hitler medienwirksam „gewissensbildende Kraft“ schöpfen und der 20. Juli 1994 zu einem „Kohl-Festival“ wird. Schon Wochen vor dem Großereignis gerieten sich Regierungs- und Oppositionspolitiker darüber in die Haare, wie der Gedenktag zu begehen sei und wer bei der zentralen Feier in Berlin reden darf. Kohl hatte seinen Anspruch, als Hauptredner im Bendlerblock aufzutreten, bereits im Oktober vergangenen Jahres angemeldet. Bundespräsident Roman Herzog wurde übergangen; die SPD fühlte sich düpiert. Besonders amüsant war zu beobachten, daß Politiker quer durch das Parteienspektrum davor warnten, den Gedenktag parteipolitisch zu instrumentalisieren und für den Wahlkampf auszunutzen: Genau das ist in den rund 50 Jahren regierungsamtlicher Erinnerung passiert.

Und wieder einmal entbrennt der Streit um das „richtige“ Gedenken des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Der wissenschaftliche Leiter der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach, droht mit seinem Rücktritt, falls auf massiven Druck verschiedener Gruppen Ausstellungsstücke kommunistischer Widerstandskämpfer aus der Gedenkstätte entfernt würden, und er kritisierte das geplante militärische Zeremoniell der Gedenkfeier: „Es ist makaber, wenn an der Stelle, an der Stauffenberg ermordet wurde, 120 Soldaten Griffe kloppen.“ Generalinspekteur Klaus Naumann reagierte und verringerte die Zahl der gewehrpräsentierenden Soldaten auf dreißig. Und die werden im Gänsemarsch einmarschieren, um den Eindruck militärischer Präsenz zu mildern.

Doch schon von Beginn an stritten die beiden deutschen Staaten um den „besseren Widerstand“: Die DDR reservierte den Antifaschismus für sich, in der Bundesrepublik wurde der konservativ-militärische Widerstand der Verschwörer vom 20. Juli 1944 aufs Podest gehoben.

Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack von der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, die Sozialdemokratin Minna Cammens und der jüdische Kommunist Herbert Baum – sie alle starben im Widerstand gegen die Nazis. Keiner von ihnen wurde in der Bundesrepublik zu dem gemacht, was der damalige PEN-Präsident Erich Kästner schon 1954 gefordert hatte: zu einem Vorbild. Ihr Widerstand, ihr Mut und ihre Integrität erschienen in der Bundesrepublik nicht opportun. Dafür wurden nach Claus von Stauffenberg, Carl Goerdeler und den Geschwistern Scholl Straßen, Schulen und Kasernen benannt.

Seit den fünfziger Jahren bemächtigte sich die damals von der CDU/CSU geführte Bundesregierung des „Widerstandserbes“, und es entwickelte sich eine bemerkenswerte Gedenktagsroutine. Helmut Kohl behauptete 1979, Christdemokraten hätten das „moralische und politische Vermächtnis des Widerstandes in die Politik der zweiten deutschen Republik eingebracht“. Man hielt sich schon früh an das Wort des Historikers Michael Stürmer, daß „in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“.

Von Anfang an sollten der Bevölkerung in Westdeutschland nur bestimmte Traditionen des Widerstands vermittelt werden, aus denen Politiker ihre entsprechenden Forderungen und Botschaften für die Gegenwart ableiteten. Sie wandelten sich im Laufe der Jahre allerdings erheblich: Zunächst ging es um die Abwehr der Kollektivschuldthese, um Rechtfertigung und außenpolitische Aufwertung. Der Gedenktag diente dazu, gegen den Kommunismus im allgemeinen und die DDR im speziellen zu polemisieren; später ging es vor allem um innenpolitisch kontroverse Themen (Bundeswehr, Notstandsgesetzgebung, Friedensbewegung). Journalisten sorgten jahrzehntelang dafür, daß die Botschaften, also das offizielle Geschichtsbild, eine breite Öffentlichkeit erreichten. Nur selten spielten demokratische, liberale, sozialistische und humanistische Ideale und Traditionen aus dem Widerstand eine Rolle. Journalisten haben immer so über den Widerstand berichtet, wie Politiker ihn aktuell deuteten. Und als Historiker längst über kommunistischen, sozialistischen, gewerkschaftlichen Widerstand geschrieben hatten, über Emigration, Jugendwiderstand, die Zivilcourage „kleiner Leute“ und über Widerstand in den besetzten Ländern, da hinkte die Berichterstattung Jahre hinterher. Auch als Mitte der sechziger Jahre deutlich wurde, daß die Verschwörer keineswegs eine Demokratie nach dem Muster der Bundesrepublik angestrebt hatten und vielfach antiparlamentarisch und nationalistisch gesinnt waren, da schrieb darüber damals kaum ein Journalist. Über die Gedenkreden hinaus waren es vor allem Skandale, Auseinandersetzungen oder Diskussionen um Redner, die als Anlaß für die Berichterstattung dienten. So auch 1978, als Herbert Wehner nicht reden sollte, weil er Kommunist gewesen war.

Nach heftigen Angriffen zog der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion seine Redenzusage zurück. Heiner Geißler hingegen, der 1985 umstritten war, weil ihm das berühmte Pazifismus-Zitat vorgeworfen wurde („Der Pazifismus der dreißiger Jahre ... hat Auschwitz erst möglich gemacht), hielt an seinem Auftritt fest. Er sagte damals im Rundfunk, er wisse sich mit der CDU in der Tradition der Männer des 20.Juli verankert. Bis zur Souveränität der Bundesrepublik 1955 diente der 20.Juli in erster Linie dazu, der ablehnenden Welt stolz zu beweisen: Nicht alle Deutschen waren Nazis!

Noch 1964 klang das bei Bundespräsident Heinrich Lübke so: „Der Aufstand vom 20. Juli ist zum Symbol der Selbstachtung unseres Volkes und zum Beginn seiner Rehabilitierung in der Völkerfamilie geworden.“

Die Gedenkredner behaupteten, daß zum Kreis des 20. Juli Männer aus allen Schichten, Parteien, Religionen, Berufen und Altersgruppen gehört hatten, und beschworen damit den gesellschaftlichen Konsens, den die Republik so bitter nötig hatte. Dieser Aspekt zieht sich im übrigen wie ein roter Faden durch alle Jahrzehnte von Forschung, Gedenkreden und Presseberichterstattung. Die Erwähnung des kommunistischen und sozialistischen Widerstands und der Emigration blieb lange tabu. Bundesinnenminister Gerhard Schröder 1954:

„Die Erinnerung an die Tat des 20.Juli darf heute in unserem Volk keine Kluft aufreißen. Sie soll vielmehr zu einem Kristallisationspunkt für unser gemeinsames nationales Bewußtsein werden.“

Die Redner hatten guten Grund, diesen Aspekt immer wieder hervorzuheben, denn schließlich gab es in der Bevölkerung eine erhebliche Abneigung gegen die Verschwörer; nach einer Umfrage von Infas hielt 1963 noch jeder vierte Bundesbürger die Männer des 20. Juli und andere Widerstandskämpfer für Verräter. Und wer konnte sich schon mit den hohen Militärs, Diplomaten und Kirchenmännern identifizieren? Es ist überhaupt bemerkenswert, wie viele Widersprüche bei den offiziellen Würdigungen, Reden, Kranzniederlegungen und Denkmalsenthüllungen unter den Tisch fielen. So bemerkte in all den Jahrzehnten der regierungsamtlichen Ehrung kaum jemand, daß die Verschwörer zwar auf dem Sockel allseitiger Würdigung standen, andererseits aber die Richter des gnadenlosen Volksgerichtshofes, die ebenjene „Helden“ zum Tod verurteilt hatten, in der Bundesrepublik nie strafrechtlich verfolgt wurden. Widerstandskämpfer beziehungsweise ihre Angehörigen erhielten oft erst nach langem Rechtsstreit eine Versorgungsrente, weil Versorgungsbehörden die Todesstrafen für Widerstandskämpfer durchaus als rechtmäßig ansahen. Beliebt war es auch jahrelang, den 20. Juli 1944 in einem Atemzug mit dem 17. Juni 1953 zu nennen. Es gehöre zur bitteren Tragik unseres Volkes, mitansehen zu müssen, so ein Kommentator in den Aachener Nachrichten 1963, „wie in Mitteldeutschland der Terror, gegen den sich die Männer des 20. Juli zusammengefunden, neu entfacht worden ist“. Der kalte Krieg war eben überall.

Mit der Gründung der Bundeswehr wurden Traditionslinien für die demokratische Armee in einem demokratischen Staat gesucht. Die Zahl der Feiern und Würdigungen zwischen 1955 und 1964 stieg erheblich an, und ab 1963 wehten am 20. Juli an allen öffentlichen Gebäuden die Fahnen auf halbmast. Während die Forschung stagnierte, stieg die Zahl der Feiern an. Die Bundesrepublik hatte es offenbar nötig, der Bevölkerung über den Umweg des Gedenktages den „Geist der Zeiten“ zu vermitteln. Aber auch hier zeigte sich, wie ambivalent das Gedenken an die Männer des 20. Juli war. Damit bloß kein Bundeswehrsoldat auf die Idee kommen würde, sich auf die Verschwörer zu berufen, hieß es, in einer Demokratie könne Widerstand natürlich keine Norm sein. Außerdem durfte man all die Wehrmachtssoldaten nicht verprellen, die nicht widerstanden hatten, denn ohne sie war der Aufbau der Bundeswehr nicht denkbar. Die geniale Lösung: Widerstand und das „Halten der Front“ wurden allen Ernstes als gleichwertig gewürdigt. Und zur Not bemühte man eben das „Schicksal“, wie es 1956 Major Christian Trentzsch tat: „Das Schicksal führte die Widerstandskämpfer auf ihren Weg, so wie es andere auf ihren Platz stellte als Truppenführer an der Front. Und jeder mußte seinen Weg gehen, mußte an seinem Platz ausharren bis zum bitteren Ende.“

In den achtziger Jahren diente der Gedenktag dazu, gegen Zivilcourage und „Widerstand in der Demokratie“ zu polemisieren, gegen die Friedensbewegung, gegen Bürgerinitiativen. Als ein Beispiel hierfür Lothar Späth 1987: „In den letzten Jahren ist besonders in den jüngeren Jahrgängen [...] richtungsloser Widerstandswille aufgebrochen, der sich praktisch gegen alles und jedes wenden kann und bis zum blanken Terrorismus reicht. Dabei ist viel ,nachgeholter Widerstand‘ im Spiel, spielen Ersatzhandlungen für den nicht geleisteten Widerstand eine Rolle, welcher den Vätern und Großvätern vorgeworfen wird.“

Der 20. Juli wurde also immer „für den Tagesverbrauch ausgedroschen“ (Klaus von Dohnanyi). SPD-Redner nutzten das historische Ereignis ebenso wie Christdemokraten – allerdings mit anderer Zielsetzung in veränderter gesellschaftlicher Situation. Etwa seit 1966 kamen am 20. Juli verstärkt Sozialdemokraten zu Wort. Auffallend ist, daß sich ihre Reden vielfach nur in Nuancen von denen der CDU-Redner unterschieden. Sie benutzten die gleichen Begriffe, Stereotypen und Klischees (Aufstand des Gewissens, Elite, Anderes Deutschland et cetera) und die gleichen Schlagwörter (Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat). Nur wenige haben liberale und humanistische Deutungen versucht, wie zum Beispiel immer wieder Klaus von Dohnanyi (1984): „Für mich bedeutet dieses Vermächtnis (des Widerstandes) politisch, daß unsere Stimme heute und zukünftig auf der Seite der Entrechteten und Verfolgten immer deutlich zu hören sein muß; auf der Seite der verfolgten Rassen und Minderheiten; und auf der Seite derjenigen, die bei uns und anderswo Asyl suchen.“ Allerdings hatte dieser Redner Pech: Ihre Interpretationen wurden nur selten abgedruckt. So zeigt sich, daß in den Jahren 1970–73 und 1975–77, in denen vor allem Sozialdemokraten und FDP-Politiker zum 20. Juli sprachen, die Berichterstattung deutlich zurückging. Das lag auch daran, daß das gesellschaftliche Feindbild durch die Entspannungspolitik ad absurdum geführt worden war – es machte einfach keinen Sinn mehr, penetrant gegen die DDR zu hetzen und auf der anderen Seite den „Wandel durch Annäherung“ zu proben. Der Widerstandskämpfer, Emigrant und Sozialist Willy Brandt hat übrigens nie als Bundeskanzler bei einer offziellen Gedenkfeier gesprochen. Das erklärt sich wohl aus dem ambivalenten Verhältnis der Sozialdemokraten dazu, den eigenen Widerstand in den Vordergrund zu rücken. Karl Ibach, 1957 SPD-Direktkandidat für den Bundestag in Wuppertal- Barmen, durfte in seinem Wahlkampf nicht erwähnen, daß er als Geschäftsführer beim Bund der Verfolgten des Naziregimes in Nordrhein-Westfalen arbeitete. In einem Flugblatt hieß es statt dessen: „Ibach ist Geschäftsführer einer großen sozialen Organisation.“ Es war eben so, wie es Ruth Daft, Tochter eines sozialdemokratischen Widerstandskämpfers, 1984 formulierte: Man warte in der SPD mit der Aufarbeitung des eigenen Widerstandes, „bis alle tot waren“. Daß gerade der 20. Juli das „Widerstandsdatum“ wurde, das zwar vorgeblich als Symbol für den gesamten deutschen Widerstand galt, letztlich aber andere Gruppen weitgehend ausklammerte, lag nicht allein an dem „so außerordentlich rückwärts gewandten geistig-politischen Klima der frühen Bundesrepublik“ (Willy Brandt). Es lag auch daran, daß sich die SPD nicht öffentlich zu ihrer Tradition im Widerstand bekannte, während die CDU die Geschichte bog und drehte und sich auf ihrer „Erbpacht“ ausruhte. 1994 ist es zu spät, wenn Rudolf Scharping es für angemessen hält, „wenn der Vorsitzende einer Partei, die in besonderer Weise unter der Diktatur des Dritten Reiches gelitten hat, um Teilnahme an der zentralen Gedenkfeier gebeten worden wäre“.

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