: "Kein Sieg ohne Leiden"
■ Spiele italienischer Machart folgen einer ganz eigenen Dramaturgie: Wichtiges Zubehör, neben Baggio, dem Helden, sind dabei Tränen und der Papst
Berlin (taz) – So richtig weise ward Boris Becker erst als er Wimbledon gewonnen hatte. Vulgärphilosophie speist sich offenbar aus siegreichen Momenten. Es sagte Arrigo Sacchi: „Im Fußball und im Leben ist nichts sicher.“ Hinreißen lassen konnte sich Italiens Coach zu dergleichen weitreichenden Erkenntnissen aber erst, nachdem sein Team im Stile einer großen italienischen Oper (crescendo furioso) ins Finale eingezogen ist.
32 Spieltage oder eine einzige Fußball-Philosophie-Lehrstunde. Es titelte der Corriere dello Sport schmerzverzerrt: „Kein Sieg ohne Leiden. Sag mal Arrigo, willst du uns Sterben lassen?“ Es tröstete Bulgariens Ministerpräsident Schelju Schelew: „Bei jedem Wettbewerb gewinnt einer, einer verliert.“ In Sofia wollten die Fans ihrem Polit-Sokrates nicht so recht beherzigen: „Wir wurden nicht besiegt. Italien hat nur gewonnen.“ Andere machten lediglich Ladehemmungen aus: „Die bulgarische Ziehharmonika, die sich gegen Deutschland so geschmeidig auseinander und wieder zusammen bewegte, schien im Halbfinale lange zu klemmen“ (De Volkskrant).
Beklemmungen kennt Paolo Maldini, Kapitän der squadra azzurri, zur Genüge: „Wir haben wie Angsthasen angefangen, uns dann enorm gesteigert.“ Als perfekter Anwender jenes Steigerungsprinzips entpuppt sich Baggio, Roberto, genannt „Roby“ (Gazzetta dello Sport), der azzurrische Held: Kein Tor in der Vorrunde, fünf in der Endrunde, zwei gegen Bulgarien. Gazzetta dello Sport: „Eine wunderschöne halbe Stunde, in der Roby zwei Tore für die Videothek erzielte.“ Robys Stärke: die 89. Minute. Nur am Mittwoch war er früher bei Sinnen.
Ob „Ja. Baggio. Ja!“ (Corriere dello Sport) aber auch im grande finale gegen Brasilien mit „zwei Blitzen“ (Corriere della Sera) im Tor einschlagen wird, ist fraglich. Nicht nur, daß sich Agnellis teurer Angestellter (Jahresgehalt: 6 Millionen Mark) an den teuren Oberschenkel faßte und sich vorzeitig vom Arbeitsplatz verabschiedete. Der „Weltfußballer des Jahres 93“ hat sich selbst um einen Zahn gebracht. Der Grund liegt im Kochtopf, „wir Italiener kochen unsere pasta al dente.
Weitere unabdingbare Ingredienzen eines Fußballspiels à l'italienne? – naturalmente, Tränen. Der Italo-Fußballer ist kein Macho, nein. Roby ist entweder „sterbensglücklich“ oder er weint. Denn: „Zum Job des Fußballers gehören Schweiß und bittere Tränen. Heute habe ich aus Freude geweint.“
Mama Baggio im übrigen im stillen Kämmerlein auch. Signora Matilda, die seinerzeit für die lädierten Knie ihres Filius' einen Teufelsaustreiber bemühen wollte, hat nicht verwunden, daß Roberto eher Buddha als dem Papst glaubt. So hegt die Signora einen Herzenswunsch: „Italien soll Weltmeister werden und Roberto wieder Katholik!“ Welch ein Kreuz, daß Romario in den Glaubensfragen der Familie Baggio noch ein Wörtchen mitreden möchte. coh
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