: Der Endsieg des Rupert Scholz
Rechtsprechung auf Vorrat: Weltweite Auslandsabenteuer der Bundeswehr brauchen nicht immer den Segen der Vereinten Nationen, meint das Bundesverfassungsgericht ■ Aus Karlsruhe Christian Rath
Der Bundesregierung ist das Kunststück gelungen, via Karlsruhe eine Verfassungsänderung ohne verfassungsändernde Mehrheit durchzusetzen. Auch nach der Bonner Wende von 1982 war es noch offen bekundete Überzeugung der Bundesregierung, daß Artikel 87 a des Grundgesetzes keine Auslandseinsätze der Bundeswehr (außerhalb des Nato- Bündnisfalls) zulasse. Erst seit Mitte der achtziger Jahre versucht die christliberale Regierung, angestachelt vom damaligen Bundesverteidigungsminister, dem Juristen Rupert Scholz (CDU), auf die Linie der konservativen deutschen Staatsrechtslehrer einzuschwenken. Diese verneinen eine solche Beschränkung der Souveränität der Bundesrepublik schon seit langem.
Eine entsprechende Verfassungsänderung, und sei es nur zur Klarstellung, hatte jedoch keine Aussicht auf die erforderliche Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Denn die SPD signalisierte Zustimmung nur für die Verankerung von Blauhelm-Einsätzen im Grundgesetz. UNO- Kampfeinsätze oder gar weltweite Nato-Aktionen ohne UNO-Auftrag und Bündnisfall wären dann ausgeschlossen gewesen. Jetzt aber hat die Regierung, was sie wollte. Sie war einfach vorgeprescht und ließ die SPD (beziehungsweise die FDP) dagegen klagen. Karlsruhe erledigte den Rest. Frechheit siegte.
Das Urteil geht sogar noch deutlich über das hinaus, was die Bundesregierung gebraucht hätte, um international nicht als düpiert zu erscheinen, auch wenn viele KommentatorInnen versuchten, das Urteil wegen des eingeräumten Parlamentsvorbehalts als „ausgewogen“ darzustellen.
Nicht erforderlich gewesen wäre etwa die verfassungsrechtliche Gleichstellung von UNO und Nato. Denn in allen drei verhandelten Fällen agierten deutsche Soldaten im Auftrag und mit Billigung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, auch wenn in Einzelfällen Kommandostrukturen der Nato oder der Westeuropäischen Union (WEU) dazwischengeschaltet waren. Die UN- Legitimation als Endzweck hätte also bereits die Mittel hinreichend „heiligen“ können.
Dennoch wurde im jetzigen Verfassungsgerichtsurteil eine Unterscheidung aufgegeben, die bisher in der Rechtswissenschaft vorherrschend war: Als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gemäß Artikel 24 II des Grundgesetzes galt nur ein System, das innerhalb seiner Mitgliedsstaaten Frieden bewahren und schaffen will (so zum Beispiel die UNO), nicht jedoch Militärbündnisse, die sich vor allem gegen „Aggressoren“ von außen richten. (Nato, WEU). Diese Aufwertung von Nato und WEU ist Verfassungsrechtsprechung auf Vorrat. Denn immerhin sind Konstellationen denkbar, bei denen der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen sich nicht mehr so einfach als Akklamationsorgan für die Interessen der westlichen Welt handhaben läßt.
Dann, so legt das Urteil nahe, das Artikel 24 II Grundgesetz ja als Rechtfertigung für Militäreinsätze im Ausland heranzieht, könnte weltweites militärisches Krisenmanagement sich auch allein auf die jetzt neu geschaffene verfassungsrechtliche Legitimation von Nato und WEU stützen.
Wenn man davon ausgeht, daß es den Militärbündnissen in der Regel gelingen wird, ihre Auslandseinsätze so zu formulieren, daß sie im weitesten Sinne als „Friedenssicherung“ durchgehen können, dann bleibt als letzte Restriktion für neue deutsche Auslandsabenteuer nur das Verbot militärischer Alleingänge. In dieser Frage jedoch sah das Gericht keinen Bedarf zur vorsorglichen Klarstellung. Was der Begriff „Verteidigung“ in Artikel 87 a Grundgesetz bedeutet, ließ Karlsruhe ausdrücklich offen. Daß damit auch die Verteidigung deutscher Rohstoffinteressen gegen „wirtschaftliche Aggressionen“ gemeint sein könnte, wie konservative Hardliner gerne „gedankenspielen“, bleibt also unwidersprochen.
Auch die Umgestaltung von Nato und WEU von sogenannten Defensivbündnissen zu Militärorganisationen mit offen zur Schau gestelltem weltweitem Aktionsanspruch ließ das Karlsruher Gericht passieren, wenn auch nur knapp (4:4 Richterstimmen). Die für einen Rüffel nicht ausreichende Hälfte des Gerichts befand, daß sich derartige Änderungen im Charakter internationaler Verträge auch in einer ausdrücklichen Vertragsänderung (mit deutschem Ratifizierungsgesetz) niederschlagen müßten. Zumindest aber müsse entsprechendes Handeln der Bundesrepublik innerhalb von solchen „auf Räder gesetzten“ Vertragsorganisationen gesetzlich legitimiert sein.
Die das Urteil tragende andere Gerichtshälfte will dagegen der Bundesregierung bei der dynamischen Auslegung und Anwendung von völkerrechtlichen Verträgen größtmögliche Freiheit lassen. Nur zur förmlichen Änderung eines Vertrags müsse der Gesetzgeber eingeschaltet werden: politische Absichtsbekundungen wie die Petersberg-Erklärung der WEU (Erweiterung des WEU-Auftrags auf die internationale Krisenbewältigung) machten dies dagegen nicht erforderlich. Pikanterweise trägt diese Rechtsauslegung auch Verfassungsrichter Paul Kirchhof mit, der als Berichterstatter im Verfahren um den Vertrag von Maastricht noch ganz anders argumentiert hatte. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht (zu Recht) gefordert, daß die faktische Umgestaltung der EG-Verträge immer auch im dafür vorgesehenen Verfahren, das heißt mit Ratifizierung der Mitgliedstaaten, erfolgen müsse. Wohl entscheidender Unterschied für den Richter Kirchhoff: Bei der EU geht es um die Einschränkung deutscher Souveränität, bei weltweiten Nato-Einsätzen dagegen um deren Ausweitung.
Nur scheinbar widerspricht dieser regierungsfreundlichen Linie der jetzt aus der „Verfassungstradition“ entwickelte Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze im Ausland. Natürlich ist es ein Fortschritt, daß in diesen Fällen künftig die Einwilligung des Parlaments erforderlich ist. Doch die Karlsruher Richter haben sogleich auch die Grenzen der Gestaltungsmacht des Bundestags deutlich gemacht. Dabei mag man aus politischen Gründen verschmerzen können, daß das Parlament der Regierung nicht die Entsendung von Truppen vorschreiben darf. Nicht bindend seien jedoch auch Beschlüsse zur Befristung und Beendigung von Auslandseinsätzen. Mit derartigen Vorgaben greife das Parlament in den von (vom Verfassungsgericht erfundenen) „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis“ ein.
Natürlich, Parlamentsbeteiligung und Gesetzeszwang sind keine Wundertüte, die immer dem Guten zum Sieg verhilft: Denn die Regierung wird sich in der Regel auf ihre parlamentarische Mehrheit verlassen können. Beschränkungsbedürftig erscheint dem Bundesverfassungsgericht bereits die gewisse Unsicherheit und das vage Plus an argumentativem Diskurs, das ein parlamentarisches Verfahren bietet. Das läßt nichts Gutes ahnen für das Selbstverständnis der neuen Großmacht Deutschland.
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