: „Sanft“ bis nach St. Petersburg?
■ Alle reisen irgendwie umweltverträglich, nur die Reisebüros wissen noch nicht darüber Bescheid. Der gescheiterte Versuch einer Bahnreise
Der Besuch im dritten Reisebüro in der Stuttgarter Innenstadt bringt auch keine neuen Erkenntnisse: „Mit dem Zug nach St. Petersburg, von hier aus? Da sind Sie mit dem Flugzeug aber viel besser dran!“ Bei den ersten beiden Reisebüros wurde ich sofort abgewiesen. Begründung: Mit Bahnfahrkarten sei ohnehin nichts verdient, erst recht nicht, wenn man so viel Aufwand mit einem Auslandsfahrschein hätte.
Ich lasse mich nicht abschrecken. Beim dritten Anlauf gebe ich gewichtig zu bedenken, daß es doch die Devise von immer mehr Reisebüros sei, ihre Urlauber möglichst umweltverträglich zu transportieren. Schließlich leisten sich ja viele Reiseunternehmen schon Umweltbeauftragte, die die Idee eines „sanfteren“ Tourismus in den Firmen weiterverfolgen sollen. Die Antwort des Reisebüroprofis kommt wie aus der Pistole geschossen: „Das Flugzeug fliegt doch sowieso, egal ob Sie mitfliegen oder nicht.“ – „Ja, aber wenn alle etwas weniger fliegen würden, könnten vielleicht ein paar Linien eingespart werden“, kontere ich und beharre auf der Zugfahrt. „Ich als Tourist ... bin bereit, auch gegenüber der bereisten Umwelt ein Stück Verantwortung zu übernehmen: ... ich benütze umweltfreundliche Verkehrsmittel“, formuliert die Arbeitsgemeinschaft „Tourismus mit Einsicht“ – ein Zusammenschluß von Umweltverbänden, wissenschaftlichen Instituten und kirchlichen Organisationen, die jahrelang auf Messen präsent war und die mangels Finanzierung ihre Arbeit einstellen mußte.
Drei Angestellte wühlen schon in diversen Aktenordnern im modern gestylten Reisebüro. „Fährt der Zug über Weißrußland oder nur durch die baltischen Staaten? „Wenn Sie durch Weißrußland müßten, wäre das Visum auf jeden Fall zu teuer, da lohnt sich dann die Zugfahrt überhaupt nicht mehr“, gibt die Frau hinter dem Tresen erneut zu bedenken. Entwarnung – eine Kollegin hat in einem schlauen Buch in der entgegengesetzten Ecke des Reisebüros die Zugstrecke ausfindig gemacht: Polen, Lettland und Litauen müssen durchfahren werden, um in 36 Stunden von Berlin aus St. Petersburg zu erreichen.
Nur wenig scheint bei den Reisebüros von umweltverträglichem Tourismus angekommen zu sein: „Wir als Reiseunternehmen ... wissen, daß die Zahl der vielseitig interessierten, rücksichtsvollen und umweltbewußten Reisenden immer größer wird. Wir wollen solche Eigenschaften und Haltungen ansprechen und fördern ...“ „Die Einsichten“, 1987 formuliert, richteten sich an die Reiseunternehmen, die Touristen und die Verantwortlichen in den touristischen Zielgebieten. Selbst in den Fachkreisen wurden die Thesen der Tourismuskritiker gelobt.
Erneut wälzt die Fachfrau Bücher und Ordner: Schulungen scheinen diese Reisebürofachkräfte schon lange nicht mehr gehabt zu haben – kein Wunder, die Reisebranche boomt, die Deutschen wollen trotz Rezession ihre Führungsposition als Reiseweltmeister ausbauen; da bleibt keine Zeit, jemanden auf Schulungen zu schicken, um die neue Geographie im Osten Europas kennenzulernen.
Endlich: „250 Mark pro Person“, wird mir der Endpreis genannt. „Inklusive Schlafwagen?“ frage ich zurück. „Nein, das sind nur die Visakosten, um durch die baltischen Staaten fahren zu können – allerdings ist in diesem Preis das Rußlandvisum eingeschlossen“, fügt die Frau am Counter beruhigend hinzu. Wieder kommt das Thema auf den Flug: „Bedenken Sie doch, die einfache Fahrkarte inklusive Liegewagen kommt auf 544 Mark, und die Zugstrecke innerhalb Deutschlands – na ja, da könnte man wenigstens den Super-Spartarif nehmen, wenn die daran geknüpften Bedingungen erfüllt werden ...“
Schließlich wird dem Kunden die Entscheidung leicht gemacht. „Wenn Sie in zwei Monaten schon in St. Petersburg sein wollen, dann bekommen wir das mit den Visa sowieso nicht mehr rechtzeitig hin. Die Konsulate haben lange Bearbeitungszeiten.“ Der Reiseprofi im Hintergrund differenziert: Die Zeit für das russische Visum würde zwar reichen, nur eben für die baltischen Staaten sei die Zeit zu knapp.
Ich nehme den Flug.
Ein paar Tage später überwiegt die Neugier: Ich rufe das lettische Konsulat an. Auf die Frage, wie man ein Visum erhalten könne, kommt die schnelle und präzise Auskunft: „Ein Visum für Lettland erhalten Sie innerhalb von vier Tagen, wenn Sie uns Ihren Reisepaß und einen Verrechnungsscheck über 15 Mark senden. Und außerdem erkennen die anderen baltischen Staaten unser Visum ebenfalls an – Sie können also damit durch alle baltischen Staaten reisen.“
Zu spät. Diesmal fliege ich noch. Aber vielleicht hat sich ja bei meiner nächsten Reise die vielbeschworene Qualifizierung und Umweltverträglichkeit auch im Stuttgarter Reisebüro durchgesetzt. Dann fahre ich bestimmt mit der Bahn. Jürgen Hammelehle
Ob mit oder ohne Bahn, um sozialverträglich vor Ort zu promenieren und dort optimal zu profitieren eine Reisebuchempfehlung: Barbara Kerneck, „St. Petersburg – das Venedig des Nordens“, Gustav Lübbe Verlag GmbH, 1994.
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