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„Wir beobachten den Bewußtseinswandel“

■ Dieter Jaenicke und Gabriele Naumann, die Leiter des Sommertheaters, zum 11. Festival und seinem Programm

Das diesjährige Motto des Sommertheaters „Realität, Öffnung, Radikalität“ könnte meinem Empfinden nach über jedem Sommertheater stehen. Was ist der spezielle Zusammenhang dieses Jahres?

Dieter Jaenicke: Solche Themen entstehen aus dem, was wir in der internationalen Performing Arts-Szene beobachten. Was wir dort als neue Entwicklung sehr deutlich wahrnehmen, ist, daß es eine neue Generation von Choreografen gibt, die sich mit zeitgenössischem Tanztheater zu gesellschaftlichen Veränderungen äußern. Ein herausstechendes Beispiel ist Meg Stuart aber auch die Compagnien aus Slowenien, die natürlich eine besondere Nähe zum Krieg haben. Das ist eine sehr interessante und gute Entwicklung. Das läuft für uns unter dem Gesamtbegriff „Realität“.

Wenn man den Ankündigungen der Tanzcompagnien glaubt, geht es in ihren Stücken nur um Tod, Schmerz, Zerstörung und Zerstückelung. Visionen und Perspektiven kommen scheinbar nicht vor.

D.J.: Es sind schwierige Zeiten, um soetwas vom Tanztheater zu erwarten; ich glaube, es ist zunächst ein großer Fortschritt, daß überhaupt globale Themen aufgenommen und umgesetzt werden.

Gabriele Naumann: Ich glaube, daß sich momentan ein Bewußtseinswandel vollzieht und der Mensch seinen Kontext wieder stärker in den Vordergrund stellt. Da geht es natürlich weniger um eine hoffnungsfrohe Utopie als um konkrete Problemlösungen.

Ist das international überall gleich?

D.J.: Nein, und daraus entwickeln sich auch sehr spannende Geschichten. Etwa das Salvador-Projekt, wo wir portugiesische und brasilianische Tänzer zusammengebracht haben. Dort gab es einen Dissenz zwischen den Brasilianern und den Europäern. In einem Land, in dem Menschen mit jedem Schritt vor die Tür ununterbrochen mit extremsten Formen von Armut und Elend konfrontiert werden, besteht eine große Abneigung dagegen, das so auf der Bühne fortzusetzen. Sie sagen: Wir wollen auf der Bühne Reflexion, aber wir wollen auch ein positives Element haben - das andere sehen wir sowieso ständig.

Und wofür steht „Radikalität“?

D.J.: „Radikalität“ haben wir gesetzt für Theaterkonzepte, die zäh und konstant über Jahre versucht haben, neue Möglichkeiten des Umgehens mit dem Phänomen Theater zu suchen. Etwa Raffaello Sanzo, von dem wir gerne eine ganze Werkschau gezeigt hätten, oder Reza Abdoh. Auf eine ganz andere Weise gilt das auch für das Teatro Piollin aus Brasilien. Die sind mit dem Geld eines Theaterpreises in den Nordosten Brasiliens gegangen, um dort ein Theaterzentrum aufzubauen und Theater über die Menschen und ihre Situation zu machen.

Und „Öffnung“?

D.J.: „Öffnung“ beschreibt jene Linie, die wir seit 1992/93 ganz explizit verfolgen, nämlich über Europa hinaus zu suchen, gezielt auch nach interkulturellen Projekten. Ich denke, wir haben in unserer Position die verdammte Pflicht, uns ein bißchen darum zu kümmern, was außerhalb des „satten Kreises“ an zeitgenössischer Kunst passiert.

G.N.: Damit fängst du natürlich auch an, deinen Begriff des Zeitgenössischen zu diskutieren. Wir gehen ja im Prinzip immer von unserer weißen eurozentristischen Sichtweise aus. In dem Moment, in dem wir mit anderen Codes konfrontiert werden, muß man plötzlich verstehen, wo der Unterschied ist und warum das so ist.

D.J.: Deswegen gibt es zwei Projekte, bei denen Künstler unterschiedlicher Kulturen zusammenkommen: Das eine ist Mathilde Monnier, das andere ist das Salvador-Projekt mit Joao Fiadeiro. Natürlich läßt sich bei keinem Projekt, bei dem man Choreographen aus Europa in die Dritte Welt schickt, die Gefahr ausschalten, daß man konzeptionell leicht kolonialistisch ansetzt. Man kann es letztendlich nur anders gestalten, indem man mit extremer Sensibilität mit den verschiedenen Fragestellungen umgeht. Und das haben wir bei dem von uns initiierten Salvador-Projekt sicherlich nicht auf allen Ebenen geschafft. Wir sind in ganz simple, eurozentristische Fallen gegangen, mit Überheblichkeit und allem, was man dazuzählen kann.

G.N.: Mathilde Monnier hat es anders gemacht, weil sie sich im Vorfeld auf eine völig andere Recherche eingelassen hat. Sie ist mit einem Teil ihrer Companie nach Burkina Faso gegangen und hat, mit Antigone als Grundlage, mit afrikanischen Tänzern über drei Monate gearbeitet. Sie hat beiden Teilen ihre Kräfte gelassen. Sehr interessant ist, daß beide Projekte hintereinander zu sehen sind. Die unterschiedlichen Herangehensweisen werden dabei sichtbar. Die eine, die im Grunde genommen Kulturen vermischt, und die andere, die sagt, Kulturen können in Verbindung miteinander treten, ohne sich zu vermischen.

Hat sich die Selbstdefinition des Festivals in den letzten Jahren geändert?

G.N.: Wir haben bisher immer versucht, abseits von den gängigen, bekannten internationalen Theatern unsere Wege zu suchen. Dieser Linie werden wir wohl auch treu bleiben. In den ersten Jahren waren wir ein rein europäisches Festival. Das hat sich seit 1990, seit dem Fall der Mauer, geändert. Dahinter steht eine persönliche politische Haltung, daß es nicht ausreicht, sich nur hier umzusehen. Wir beobachten, was an Bewußtseinswandel in anderen Kulturen passiert. Genau das ist unsere Aufgabe, aber wir werden deshalb weder den zeitgenössischen Zusammenhang aufgeben noch ein „Haus der Kulturen der Welt“ werden.

Deutsches Theater kommt fast überhaupt nicht mehr vor. Gibt es hier nichts Interessantes?

G.N.: Unser Auftrag ist es nicht, deutsches Theater oder deutschen Tanz zu präsentieren. Dafür ist ein Ort, der das ganze Jahr Programm macht, wesentlich geeigneter. Hier auf Kampnagel haben wir dieses Jahr zugesagt, uns an der Koproduktion mit Coax zu beteiligen. Das ist eine Compagnie auf der Kippe zur internationalen Anerkennung, wo wir es für sinnvoll hielten, sie zu präsentieren.

Diesmal produziert ihr auch das erste Mal ein Projekt alleine.

D.J.: Ja, das ist neu. Aber solche Produktionen wie das Salvador-Projekt sind natürlich sehr aufwendig. Das geht nur mit einen finanzkräftigen Partner wie diesmal Lissabon 94. Man kann es sich nicht jedes Jahr leisten und wenn, dann auch nur eine Produktion im Jahr. Ich glaube aber, daß es für das Profil eines Festivals wichtig ist, sich an dem Entstehen von Dingen zu beteiligen.

Gibt es seitens der Kultursenatorin Zusicherungen, daß beim Sommertheater trotz Sparprogramm alles so weiterläuft?

D.J.: Nein. Und das Problem ist außerdem, daß wir, so unbescheiden das in der augenblicklichen Sparsituation auch klingen mag, bei gleichbleibendem Budget immer größere Probleme bekommen, weil es immer schwieriger wird, woanders Geld zu organisieren.

G.N.: Wir sind eines der ersten Projekte gewesen, die mit Sponsoren gearbeitet haben, aber das erfüllt ja seinen Zweck nur begrenzt, logischerweise. Mit unseren Sponsoren haben wir Glück, und das schon seit Jahren, aber es ist schwierig, neue aufzutun.

D.J.: Die 1,2 Millionen Mark staatlicher Subventionen sind im Vergleich zu anderen großen Festivals lächerlich. Wir haben dennoch immer ein großes Festival mit Konzept machen können, weil wir extrem sparsam unsere Organisation aufgebaut haben. Und das gerät uns jetzt ein bißchen zum Nachteil. Die Stadt Hamburg muß sich, wenn sie ein großes Festival haben will, und ich finde, sie sollte eins haben, klarmachen, daß das Geld kostet, und eigentlich mehr, als wir bekommen.

Fragen: Till Briegleb / Julia Kossmann

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