: Ich kenne Sie, etwas
■ Ein Brief von Bernard-Henri Lvy an Taslima Nasrin
Liebe Taslima Nasrin,
ich habe Salman Rushdie gekannt, als die ihn verdammende Fatwa über ihn verhängt wurde. Ich hatte die meisten seiner Texte gelesen, natürlich auch die berühmten „Verse“ – wir haben ja inzwischen alle genug Zeit gehabt, das zu tun.
Sie hingegen kenne ich kaum. Keines Ihrer Bücher ist übersetzt. So kommt es, daß die meisten derer, die sich an dieser Stelle Woche für Woche an Sie wenden, nicht die geringste Vorstellung von der Besonderheit Ihrer Stimme haben, und sicherlich ebensowenig Ihres Talentes.
Einige werden sich davon entlasten, indem Sie Ihnen ihre prinzipielle Freundschaft und Sympathie zu versichern versuchen; ich sage absichtlich „versuchen“, denn nichts ist unbehaglicher als mit einem Symbol zu sympathisieren, ein Zeichen zu lieben oder einen Fall ...
Einige werden ihre Bestürzung wiederholen, daß es mitten im zwanzigsten Jahrhundert möglich ist, für einen Roman zum Tode verurteilt zu werden. Ich sage „wiederholen“, denn, einige Varianten ausgenommen (zugegeben, entscheidende), ausgenommen etwa die Tatsache, daß Sie eine Frau sind, mehr noch, eine Frau auf islamischem Boden, ausgenommen, daß diese – Ihre – Regierung, weit davon entfernt, Sie zu schützen, die Partei der Totschläger ergriffen hat, indem sie einen Vorführungsbefehl lancierte; abgesehen von diesen „Varianten“ ist Ihre Situation tatsächlich von der Salman Rushdies wenig unterschieden: Das geheiligte Entsetzen, das diese Situation uns einflößt, die Angst, in der sie uns erstarren läßt, hat sie nicht im Grunde – mit ihm – bereits unseren bitteren Schmerz erschöpft?
Andere wiederum, wenn nicht sogar dieselben, werden eine dumpfe, heimliche Eifersucht empfinden, daß es für einen Schriftsteller, allein durch ein Buch, möglich ist, einen derartigen Zorn auf sich zu ziehen. Haben wir nicht gelesen, liebe Taslima Nasrin, daß die bengalischen Mullahs drohten, die ganze Stadt den Schlangen auszuliefern, sofern diese nicht Sie ausliefert? Eine Frau, Schlangen ... Schlangen um den Preis einer Frau ... Das ist mehr als eine Drohung, es ist ein Bild. Mehr als ein Bild, ein Rückgriff auf eine Tradition. Und niemand kann sich darüber täuschen, welche endgültigen, apokalyptischen Verwünschungen in dieser Bezugnahme widerhallen.
Wenn ich Ihnen schreibe, liebe Taslima Nasrin, dann um Ihnen dies alles zu sagen. Aber auch, um mich – über Sie –, wenn nicht an Ihre Totschläger, so doch an alle jene zu wenden, die ihnen nachgegeben haben und die, jetzt, wo ich Ihnen schreibe, Ihr Schicksal in der Hand haben.
Der Zufall will, daß ich sie tatsächlich kenne, jedenfalls ein bißchen. Es ist mehr als zwanzig Jahre her. Ihr Land führte, was der Jargon der Epoche einen „Krieg der nationalen Befreiung“ nannte. Die öffentlichen Meinungsträger in Europa waren entflammt. Ein alter Schriftsteller, André Malraux, hatte zur Einrichtung „internationaler Brigaden für Bangladesch“ aufgerufen. Und weil ich den alten Schriftsteller verehrte, weil ich in dem Alter war, in dem man lyrische Illusionen hat, und weil das Bild eines heroischen Volks, das für seine Freiheit kämpfte, mich mit Respekt erfüllte, bin ich in Ihr Land gereist. Und so kam es, daß ich einer der wenigen westlichen Besucher war, der, ohne Journalist zu sein, von September bis Dezember 1971 die letzten Monate dieses Kriegs an der Seite Ihrer Vorfahren verbracht hat.
Sie, liebe Taslima Nasrin, sind zu jung, um sich an diese Zeit zu erinnern. Ich aber, ich erinnere mich an die Einnahme von Jessore und Khulna. Ich erinnere mich an die „Joy Bangla“-Rufe beim Einmarsch in Dhaka. Ich erinnere mich an diese rot-goldene Flagge, die auf den Lastwagen wehte und die wohl die von Bangladesch ist. Ich erinnere mich an diese „Muktis Bahinis“, die pro Tag nur fünf Patronen benutzen durften, zehn ganz zuletzt, nach der Einnahme von Narayangani. Ich erinnere mich an diese Kinder-Soldaten, die später vielleicht Minister geworden sind, und an diese junge, sehr schöne Frau, die Sultana hieß, und die Ihnen ähnelt.
Was macht Sultana heute? Wo ist sie? Was ist aus ihnen geworden, aus jenen Anhängern Gandhis, die entgegen ihrer Überzeugung gezwungen waren, Gewehre in die Hand zu nehmen? Und die Verteidiger des Merpur-Viertels?
Und diese Einheit von Guerilleros, die sich eines Nachts der Vernichtung eines Verstecks von Razakhar entgegenstellte, und wo sind die pakistanischen „Kollaborateure“, die die Menge zu massakrieren vorhatte? Und der Philosophiestudent, der behauptete, auf die Entfernung, allein durch den Krach ihrer Granaten, die Mörsergeschosse unterscheiden zu können, und der ihnen, als die Nacht zu lang wurde, zum Spaß Schriftstellernamen verpaßte? Und Sandrinath, der vorhatte, nach dem Krieg Tagore zu übersetzen, der aber damals noch für mich die Tausende von „booklets“ übersetzte, die auf dem Land von den maoistischen Grüppchen der zwei Bengalen vertrieben wurden? Und Maulana Bashani, ihr alter Chef? Und Mohamed Toha, den ich wochenlang vergeblich suchte? Und Abdul Motin? Und Mujibur Rahman, der Vater des Sieges, diese Kreuzung aus Salvador Allende, Fellini und Izetbegović?
Sie sind es, zu denen ich heute gerne spräche. Sie sind es, die ich gerne wiedersähe, fast ein viertel Jahrhundert später, um mich für Sie, für Ihr Problem, einzusetzen. „Ihr seid ein großes Volk“, würde ich ihnen sagen. „Auch wenn Ihr ein kleines Land seid, und auch wenn dieses kleine Land sehr arm ist, sein Volk ist ein großes Volk, und seine Kultur ist eine großartige Kultur. Einen Schriftsteller jagen? Ihn steinigen? Im Land Mahabharatas und Tagores, in diesem multikulturellen Bengalen, das niemals weder zu schlichten gewußt noch gewollt hat zwischen den verschiedenen Traditionen des Sanskrit, der muslimischen und der europäischen, in diesem Land, das einen seiner rätselhaften Schriftsteller ,Ozean des Wissens‘ nennen darf, in einem solchen Land zu akzeptieren, daß das letzte Wort dem Fundamentalismus und der Lynchjustiz erteilt wird? Freunde! Welch eine Verhöhnung! Ganz gewiß ist das nicht die richtige Art, treu zu sein, weder Eurem Gedächtnis noch, gestattet mir die Bemerkung, Eurer Jugend.“
Bernard-Henri Lévy
Aus dem Französischen von Ina Hartwig
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