Sanssouci: Nachschlag
■ Eine Podiumsdiskussion über den "Fall" Reich-Ranicki
„Volkssturm im Feuilleton“ hieß eine Veranstaltung des Auschwitz-Komitees und der Zeitung Junge Welt, die als Podiumsdiskussion zum „Fall“ Reich-Ranicki angekündigt war. Doch anstatt zu diskutieren, zogen es die Teilnehmer mit Ausnahme des Literaturkritikers Thomas Rothschild vor, das Feuilleton mit eigenen Mitteln zu bekämpfen. Um keine Pointe ihrer sorgfältig vorbereiteten Texte im mündlichen Vortrag verpuffen zu lassen, lasen die Autorin Elfriede Brüning, konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza und der Publizist Eike Geisel nacheinander ihre langatmigen Statements vom Blatt ab. Wolfgang Harich hatte aus gesundheitlichen Gründen abgesagt, aber einen Brief geschickt, worin er Reich-Ranicki als einen „notorischen Antikommunisten“ charakterisiert, dem aber dennoch die Solidarität nicht versagt bleiben dürfe: „Hoch soll er leben, er lebe hoch.“
Die Schriftstellerin Elfriede Brüning empfahl Reich-Ranicki, das Maß an moralischer Gelassenheit, mit dem er an seine eigene Biographie herangehe, auch bei der Beurteilung ostdeutscher Autoren anzuwenden. Ein wenig abseits vom Thema bemerkte Frau Brüning: „Die Nazis haben nur die Literatur ihrer politischen Gegner oder der Juden verbrannt. In Ostdeutschland ist dagegen die gesamte Literatur von vierzig Jahren auf den Schutthaufen geworfen worden.“ Auch Eike Geisel erlaubte sich einen Schlenker, und sprach über den Antisemitismus der Hitler-Attentäter vom 20. Juli. Aber das paßte ganz gut zum Tage, und von dort bis zur „antijüdischen Kampagne“ gegen Reich-Ranicki ist es ja ohnehin nur ein kleiner Schritt, denn: „Wie die Kirche den Teufel, braucht der Deutsche den bösen Juden.“ Es sei nicht mehr als die Wiedergeburt alter Verhältnisse, so Geisel, wenn die „Herrenmenschen von der Zeit“ für ihre Recherche gegen Reich-Ranicki, also für die „Drecksarbeit“, einen polnischen Journalisten engagieren. Im übrigen gebärde sich Biermann gegen Reich-Ranicki ganz in der Art von Adolf Eichmann. Und Thomas Rothschild war sowohl gegen Biermann als auch gegen Reich-Ranicki, zusätzlich aber auch gegen Henrik M.Broder und Eike Geisel. Überhaupt war in dieser Reich-Ranicki-Solidaritätsveranstaltung fast der gesamte Saal gegen den Kritiker gestimmt. Zu plump sei seine Abbildtheorie, und was man als unterhaltend empfinden könne, sei in Wirklichkeit nur die „Beförderung der Bestsellerkultur“ (Rothschild). Reich-Ranicki werde heute zum Opfer jener antikommunistischen Haltung, die er selbst über Jahrzehnte schüren half (Gremliza). Und wo war das Opfer selbst an diesem Abend? Klugerweise wahrscheinlich zu Hause – ein „Fall“ braucht ja auch kein Gesicht. Peter Walther
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