Überleben mit Gefängnisaktien

Die Berliner Wertpapierbörse verbessert sich vom sechsten auf den fünften bundesdeutschen Ranglistenplatz / Computer und Zentralisierungsversuche der Großbanken bedrohen kleine Regionalbörsen  ■ Von Hannes Koch

Das reale Leben im Berliner Börsensaal an der Fasanenstraße hat nichts mehr mit den populären Vorstellungen vom nervenzerreißenden Tanz ums goldene Aktienkalb zu tun. Auf dem Parkett der Wertpapierbörse schreit niemand, keiner rennt, gestikuliert heftig, wedelt mit bekritzelten Zetteln oder ist angesichts purzelnder Aktienkurse einem Schwächeanfall nahe.

Auch im fünf Quadratmeter großen Arbeitsraum der Weberbank, einem in Berlin ansässigen Kreditinistitut, herrscht weitgehend Ruhe. Die mit Telefonen und Computern vollgestopfte Kammer liegt am Außenrand des kreisrunden Börsensaals. Aktienhändler Hans-Wolfgang Loyda überwacht die auf den Monitoren flimmernden Kurse und tippt von Zeit zu Zeit ein paar Daten in die Tastaturen. Seine KollegInnen im großen Saal geraten ebenfalls nicht ins Schwitzen. Einer liest in aller Ruhe das Börsenblatt und unterbricht die Lektüre nur durch sporadische Blicke auf die große Anzeigentafel, die die aktuellen Kurse sämtlicher in Berlin handelbarer Papiere anzeigt. Manche Arbeitsräume anderer Kreditinstitute sind kaum besetzt: Bei der Commerzbank kommen auf 15 Arbeitsplätze zwei anwesende HändlerInnen, bei der Deutschen Bank und der Dresdener Bank sieht es ähnlich aus.

Während der Börsenzeit zwischen 10.30 und 13.30 Uhr empfängt Hans-Wolfgang Loyda vielleicht zwanzig Telefonanrufe von GeschäftspartnerInnen. Gerade gibt eine befreundete Privatbank einhen Auftrag durch. „500 Schering 80 Brief“, bestätigt Loyda in den Telefonhörer, was in Normalsprache heißt: Der Kunde möchte 500 Schering-Aktien zum Preis von 980 Mark pro Stück verkaufen. Der Weberbank-Händler schreitet daraufhin aufs Parkett hinaus, um die Papiere an einen der Makler zu veräußern, die an erhöhten Computerplätzen innerhalb des Börsenrunds arbeiten. 200 Schering- Aktien wird Loyda sofort los, die übrigen 300 tippt er – zurück in seiner Arbeitskammer – als unerledigtes Angebot in den Computer und hofft, daß irgendein Interessent das Aktienpaket im Datennetz entdeckt und kauft.

Vor allem der vermehrte Computereinsatz ist dafür verantwortlich, daß das Leben an der Börse in ruhigen Bahnen verläuft. „Früher mußten wir mit jedem Angebot rauslaufen und persönlich mit den Maklern verhandeln. Es gab keine Bildschirme“, so Loyda. Heute dagegen verlassen sich immer weniger KundInnen auf die Erfahrung und Intuition der HändlerInnen und vertrauen ihre Verkaufs- und Kaufaufträge direkt den weltweit zusammengeschalteten Börsencomputern an. Von den AuftraggeberInnen gehen die Aktienpakete – in der modernen Form des Datensignals – ohne Umweg an die Maklerbüros. Börsenhändler wie Hans-Wolfgang Loyda werden zunehmend überflüssig, und die Banken bauen ihr Personal ab.

Als Begleiterscheinung der Computerisierung entwickeln die Maschinen die Tendenz, sich selbständig zu machen und den Menschen nicht mehr zu gehorchen. So geschehen beim Börsenkrach 1987 in New York. Auf sinkende Aktienkurse reagierten die Computer entsprechend der ihnen eingespeicherten Programme mit hektischen Verkäufen, um das Geld der Anleger noch rechtzeitig zu retten. Ergebnis: Durch die Verkaufslawine brachen die Kurse erst recht ein. Manche SpezialistInnen fürchteten daraufhin bereits Firmenzusammenbrüche ohne Ende und eine Neuauflage der Weltwirtschaftskrise von 1929. Während in den USA inzwischen Vorsichtsmaßnahmen gegen computergesteuerte Panikverkäufe eingeführt wurden, ist an deutschen Börsen der elektronisch verursachte Crash noch möglich. Und ein weiterer Grund fällt Hans-Wolfgang Loyda ein, warum es am Berliner Aktienmarkt zeitweise recht ruhig zugeht. Die in Frankfurt am Main ansässigen Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, bemühen sich, das Geschäft an der wichtigsten deutschen Börse zu konzentrieren und die übrigen sieben Regionalbörsen auszutrocknen (Düsseldorf, München, Hamburg, Stuttgart, Berlin, Hannover und Bremen). Gerade der Handel mit Aktien der großen Konzerne würde zunehmend in Frankfurt abgewickelt, meint Loyda. „Wir müssen hier ganz schön strampeln, um zu überleben.“

Berliner Händler und Makler verlegen sich deshalb auf Felder, die ihre Frankfurter Kollegen wenig beackern. Den Begriff „Nischenbörse“ hört Jörg Walter, Geschäftsführer der Berliner Wertpapierbörse, nicht gerne: „Wir wollen Spezialitäten kreieren.“ Einer der Vorreiter dieser Strategie ist unlängst von einer längeren Reise in die USA zurückgekehrt. Holger Timm, Chef einer Berliner Maklerfirma, bereist die fünf Kontinente, um unbekannte, meist kleine Firmen aufzustöbern, die ihr Eigenkapital durch die Ausgabe von Aktien erhöhen wollen. Während der vergangenen anderthalb Jahre sind auf diese Art über 100 neue Aktien in Berlin in Verkehr gebracht worden – einige davon sind an keiner anderen bundesdeutschen Börse zu bekommen. Die Anteile stammen von Firmen, die doppelwandige Öltanks produzieren oder Golfschläger herstellen. US-amerikanische Privatgefängnisse (Timm: „Profitabel und besser als staatliche Haftanstalten“) finanzieren sich ebenso über die Fasanenstraße wie Spielcasinos aus Las Vegas.

Außerdem soll sich Berlin zum zentralen Handelsplatz für osteuropäische Wertpapiere entwickeln, schwärmt Börsenchef Walter. Dieser Anspruch harrt aber noch seiner Verwirklichung. Aus allen Gebieten östlich der Elbe gibt es augenblicklich exakt zwei Aktien zu kaufen: Die eine stammt vom Molkereikonzern Sachsenmilch, die andere von einer Telefonfirma aus St. Petersburg. „Mehr ist dort einfach nicht vorhanden“, bedauert Jörg Walter und hofft für die Zukunft.

Trotzdem trugen die weithin unbekannten Papiere kleiner Unternehmer zum erstaunlichen Boom der Berliner Börse im Jahr 1993 bei. Der Aktienumsatz stieg um 85 Prozent, bei den festverzinslichen Wertpapieren war sogar ein Zuwachs von 325 Prozent zu verzeichnen. Letzterer ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß in Berlin ansässige Kreditinstitute neue Scheine ausgaben, um den durch die umfangreichen Baumaßnahmen im Stadtgebiet entstandenen Finanzbedarf zu decken. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt stiegen die Börsenumsätze 1993 um etwa 50 Prozent an. Doch der Erfolg ist relativ: Berlin gehört zu den kleinen Regionalbörsen, nur Hamburg, Hannover und Bremen machen weniger Umsatz. Obwohl die Fasanenstraße im vergangenen Jahr vom sechsten auf den fünften Platz vorrückte, ist Frankfurt als zentraler Handelsplatz auch in Zukunft nicht gefährdet.

Kurz vor halb zwei schließlich packt der Händler seine Sachen und wirft noch einen Blick auf die Großbaustelle vor dem Fenster seines Arbeitszimmers. Wo heute eine tiefe Baugrube gähnt, wird sich ab 1997 das neue Domizil der Industrie- und Handelskammer erheben. Gemäß dem spektakulären Entwurf eines Londoner Architektenbüros erhält das Wirtschaftszentrum die Form einer gigantischen Raupe aus Metall und Glas. Auch die Berliner Wertpapierbörse wird dort einziehen, allerdings mit weniger Platz auskommen müssen als bisher. Loyda: „Wegen der Computer brauchen wir den großen Saal nicht mehr. Da ist sowieso nichts los.“