: Jugend ist nicht totzukriegen
■ Sexualethisch Verwirrendes aus der "Voodoo Lounge": Der Aufklärer Oswalt Kolle über die neue CD der Rolling Stones
Gerade habe ich bei CNN die Schlangen vor den Plattenläden in New York gesehen, wo hauptsächlich gediegene Mittvierziger im Business-Look sich die Nacht um die Ohren schlagen, um als erste das 25. Album der Rolling Stones zu ergattern, „Voodoo Lounge“ – da klingelt es an der Tür meiner Amsterdamer Wohnung: Mir wird die CD vom PTT-Express ins Haus gebracht (alte kapitalistische Weisheit: Wer's nicht nötig hat, kriegt's umsonst).
Sofort schieben wir das Ding rein in den Player, meine holländische Schwiegertochter und ich lauschen andächtig. Sie ist 36, trommelt mit den Fingern den Takt und sagt, ein bißchen sentimental: „Da ist er wieder, der typische Ton, wunderbar.“ Sie denkt an Provos, Dolle Minas, Rauchbomben auf Prinz Claus, Universitätsbesetzung – those were the days. Ich denke an die Jahre nach 68, als es zwischen meiner Tochter und meinem Sohn beinahe für immer schiefgegangen wäre, weil sie Beatles-Anhängerin war und er die unbehauene Provokation der Rolling Stones liebte.
Eben noch hatten die Eltern und Erzieher dieses langhaarige Beatles-Kroppzeug mit den Pilzköpfen und der „Negermusik“ verteufelt – da wurden die plötzlich zu lieben Jungs erklärt. Denn die Stones waren der Untergang aller abendländischen Kultur: Auf der Bühne machten sie obszöne Gesten zu ihren „sexualethisch die Jugend verwirrenden Texten“, kurz Schweinereien; sie zertrümmerten Hoteleinrichtungen, stahlen die Hotelwäsche, pinkelten in die Betten, kifften Hasch und wurden dafür immer wieder verhaftet. Ich selbst, damals ein Vierziger, gehörte zu diesen widerlich scheißliberalen Vätern, denen man heute vorwirft (man kann's auch keinem recht machen), sie seien als Erzieher wie Wattebäusche: Ich zertrümmerte die Lieblingsplatten meiner Kinder nicht, ich sang mit. „I can't get no satisfaction“ und „Angie“ von den Stones – das machte auch mich heiß und wild.
Die Gesellschaft teilte sich in die Jungen (Junggebliebenen) und die Ewiggestrigen. Die wollten weiter Wein, Weib und Gesang – die anderen setzten auf Sex and Drugs and Rock 'n' Roll. Nie war die Kluft zwischen den Generationen größer als damals. Als Brian Jones im Juni 69 die Stones verließ, sagten die Jungen „Shit“, die Alten hofften, daß der Spuk damit zu Ende sei – und als Brian im Juli 69 bewußtlos in seinem Swimmingpool gefunden wurde und kurz darauf im Koma starb, da weinten die Jungen. Die Alten aber freuten sich „klammheimlich“ und moralisierten mit diesem Tod ihre Kinder: Da siehst du, was aus dieser Drogen-Verwahrlosung wird!
Und doch war es der Aufbruch in eine „Jugendkultur“, die niemals danach wirklich totzukriegen war. Eine Kultur, die damals in den sechziger Jahren übrigens auch die Jugendlichen schied. Die Provokation des Establishments und Verletzung aller „Anständigkeitsnormen“ durch die Stones brachten ihnen bei den Erwachsenen den Ehrentitel „die häßlichste und schmierigste Pop-Gruppe der Welt“ ein – das empfanden die meisten Jugendlichen damals geradezu als Aufforderung, die Gruppe zu lieben.
Doch dann kam die Wende: im Juni 64 bei der ersten Europa- Tournee stand Mick Jagger noch keine Viertelstunde auf dem Podium der Scheveninger Kurhalle, da war das Mobiliar durch wahnsinnig gewordene Stones-Fans schon kurz und klein geschlagen. Von jetzt an sind Beatles-Liebhaber lieb, brav und anständig – Stones-Fans gelten als brutal, schmuddelig und aggressiv. Wie die Gruppe selbst waren sie die Anarchisten, die Revolutionäre, die eine schöne saubere Bürgerwelt einfach auf den Kopf stellen wollten.
Soviel zur Nostalgie, von der man ja weiß, daß sie auch nicht mehr ist, was sie einmal war. Ich will nicht in die Rolle „Opa erzählt vom Krieg“ verfallen – das tut Mick Jagger mit seinen Stones auf der neuen CD übrigens auch nicht: Die 15 Titel, die er gemeinsam mit dem unvergleichlichen Gitarristen Keith Richards geschrieben (und deren Musik er komponiert) hat, sind erwachsen geworden. Oft meint man, die leise Wehmut der Fünfzigjährigen zu hören und zu fühlen angesichts dieser Myriaden von kurzberockten Teenagern draußen, die nicht mehr hinter ihnen herlaufen. Natürlich kann sich Mick der Macho nicht verleugnen. In „Suck On The Jugular“ kommt der Dolchstoß direkt in die Herzen der Feministinnen: „I love men to be men and women to be women“ – wo wir das doch gerade so schön durcheinandergebracht haben.
Und dann sagt er auch ganz klar, was er mit der Frau, die noch Frau geblieben ist, tun will: „All get together and fuck all night“. Lasziv will er immer noch leben, ausgesaugt werden von den Ladies, Promiskuität ist für ihn kein Schimpfwort. Solche Texte werden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (die heißt echt so) wohl immer noch für „sexualethisch verwirrend“ gehalten werden. Aber schockieren werden sie höchstens die selbsternannten Zensoren. Oder kann ein Satz schockieren wie dieser (aus „Sparks Will Fly“ – Funken werden fliegen): „Going to get there real fast – going to fuck your sweet ass“? In einer Zeit, in der genaue Anweisungen für Analverkehr selbst in der Bild-Zeitung gegeben werden? Obwohl: Es wird sich doch irgendwo in diesem unserem Lande ein empörter Bischof finden lassen, der mit Hilfe eines Ministerpräsidenten die Polizei in die Plattenläden schickt? Wer weiß.
Erstaunlich ist, daß diese Gruppe von vier (nach dem Ausscheiden von Bill Wyman) Mittelalterlichen auch nach 25 Jahren noch eine so starke Musik machen kann, die weit über das Mittelmaß hinausreicht. Laut und leise, schnell und langsam: immer kommt der einmalige Stones-Ton heraus, die rauhe Gitarre von Keith Richard, das eindringliche Spiel des neuen Bassisten Darryl Jones. Und immer die erotische Stimme von Mick Jagger, der ein Jahrhundert mitgeprägt hat – und immer noch diese animalische Kraft des großen Liebhabers ausströmt. Wer nach 62 Minuten und 10 Sekunden, nach 15 abwechslungsreichen Titeln davon nicht fasziniert ist – der sollte schnell eine der alten Beatles-Platten auflegen. Viel Vergnügen!
Oswalt Kolle, bekannt geworden durch seine Aufklärungsserien der sechziger Jahre („Deine Frau, das unbekannte Wesen“ „Dein Mann, das unbekannte Wesen“), lebt als freier Autor und Kolumnist in Amsterdam.
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