piwik no script img

Mehr Zeit fürs Private – doch der Urlaub fällt für manche aus

Seit Anfang des Jahres müssen die VW-Beschäftigten weniger arbeiten, doch auch der Lohn ist gekürzt / Wie reagieren die Betroffenen? / Viele wollen lieber zum alten Modell zurück, weil es jetzt am Geld fehlt  ■ Aus Wolfsburg Martin Kempe

Wenn Wolfgang Dehn aus Celle morgens um kurz vor fünf aufsteht, muß er manchmal an früher denken – an das zentnerschwere Gefühl bei den ersten Schritten in seiner kleinen Wohnung, an die noch fast im Halbschlaf zurückgelegten rund siebzig Kilometer auf der nächtlichen B 214 und B 188 nach Wolfsburg, an jene bleierne Müdigkeit, die sich im Lauf des Tages wie eine örtliche Betäubung zwischen seinen Schläfen festsetzte und bis zum Abend nicht nachließ. Der 41jährige Schichtarbeiter legt jeden Tag rund 140 Kilometer zwischen seiner Wohnung und dem Arbeitsplatz in der Halle 15 des Wolfsburger VW-Werks zurück. Als „Einfahrer“ sitzt er auch während der Arbeit am Steuer: am Ende der Produktionskette in den riesigen Wolfsburger Werkshallen nimmt er die Neufahrzeuge entgegen, fährt sie zur Verladestation, während er gleichzeitig noch ein letztes Mal alle Funktionen überprüft – ein stressiger, aber gutbezahlter Job.

Wolfgang Dehn ist einer von rund 50.000 Beschäftigten des Wolfsburger VW-Werks, deren Arbeitssituation sich durch die Einführung des sogenannten „VW-Modells“ erheblich verändert hat. Seit Anfang des Jahres gilt in allen inländischen Werken des VW-Konzerns mit seinen knapp mehr als 100.000 Beschäftigten die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 28,8 Stunden.

Im Wolfsburger Stammwerk zogen sich die Verhandlungen über die konkrete Umsetzung in den verschiedenen Werksteilen bis Ende März hin. Und noch immer wird in den Werkhallen und Büros der VW-Standorte von Emden über Wolfsburg bis Salzgitter heftig über die Vor- und Nachteile dieses bisher einmaligen Großexperiments zur Arbeitsplatzsicherung debattiert.

Dehn war, wie fast alle anderen Beschäftigten des Konzerns, für die Einführung der neuen Arbeitszeiten. Denn die Alternative zur drastischen Verkürzung der Arbeitszeiten mit erheblichem Lohnverlust war die Entlassung von rund 30.000 Kolleginnen und Kollegen, davon allein rund 15.000 am Standort Wolfsburg. Er selbst, das weiß er, hätte nicht zu den Opfern gehört. Aber es war für ihn ein Gebot der Solidarität, in einer schwierigen Situation Arbeit und Lohn mit denen zu teilen, die sonst in die Arbeitslosigkeit geschickt worden wären.

Trotz dieser anfänglichen Zustimmung ist seine persönliche Bilanz des VW-Experiments nach einigen Monaten Erfahrung keineswegs eindeutig. Einerseits empfindet er die neuen Arbeitszeiten als große Erleichterung. Denn früher, als die Frühschicht noch um 4.20 Uhr begann, „mußte ich jeden Morgen um 3 Uhr aus dem Bett“. Der spätere Schichtbeginn sei für „den biologischen Rhythmus wirklich gut“, hat er festgestellt. „Man fühlt sich den ganzen Tag besser.“ Das wiegt schwer. Aber noch schwerer wiegt für ihn der mit der Arbeitszeitverkürzung einhergehende Verlust der Sonderzahlungen, die bei VW bisher recht üppig ausgefallen sind und, auf den Monat umgerechnet, rund 800 Mark ausmachen. Unter dem Strich, meint er, würde er trotz aller Erleichterungen lieber wieder zu den alten Arbeitszeiten zurückkehren – wegen des Geldes, aber auch weil der Schock über die im vergangenen Jahr offenbar gewordene Unsicherheit tief sitzt: „Erst wenn VW wieder mehr Autos verkauft, sind unsere Arbeitsplätze auch wieder sicherer.“

Ähnlich sieht es der seit über 25 Jahren bei VW beschäftigte Vorarbeiter Adolf Glaser. Auch er hat der Tarifvereinbarung aus Solidarität zugestimmt. Aber finanziell sei es für ihn und seine Familie nun „sehr eng“ geworden. Denn nicht nur der Verlust der Sonderzahlungen reißt ungewohnte Löcher in die knapp kalkulierte Haushaltskasse. Laut Tarifvertrag sollen Überstunden in Zukunft nicht mehr ausbezahlt, sondern durch Freizeit ausgeglichen werden. Und schließlich kommt noch die schlechte Konjunktur für Jahreswagen dazu: „Früher bin ich praktisch umsonst gefahren, aber das ist nun auch vorbei“, berichtet Glaser über einen für Automobilarbeiter nicht unwichtigen Nebenaspekt der krisenhaften Autokonjunktur. Und während die Einnahmen auf diese Weise um etwa 800 Mark monatlich geschrumpft sind, bleiben die Belastungen für das noch nicht abgezahlte Haus, für die in Braunschweig studierende Tochter bestehen. Wo soll er sparen? Das Familienessen im Restaurant, die Sommerreise, also „die angenehmen Dinge im Leben“ fallen jetzt weg, meint der 51jährige Arbeiter mit spürbarer Verbitterung.

Ganz anders sieht die persönliche Bilanz von Martina Möller aus, einer 35jährigen Bandarbeiterin in der Halle 10, die im 1,71-Minuten- Rhythmus Einstiegsleisten, Mastbolzen und Gepäckablagen für den Golf Variant montiert. Das unmenschlich frühe Aufstehen in der Frühschicht, die in ihrer Abteilung bislang um halb sechs begann, fällt weg – ein Gewinn an Lebensqualität, der auch von anderen Arbeiterinnen und Arbeitern nahezu einmütig hervorgehoben wird. Heute kann die geschiedene Mutter von drei Kindern noch vor Arbeitsbeginn um 7 Uhr ihre schulpflichtige Tochter wecken und sich mit ihr nach Schichtende um 13 Uhr zu Hause zum Mittagessen wiedertreffen. Und auch vor der um 14.30 Uhr beginnenden Spätschicht „sehe ich meine Kinder mittags noch“, berichtet sie.

Für Martina Möller zählt der Zeitgewinn für ihre Familie und ihre Hobbys deutlich mehr als der Geldverlust, den sie mit rund 300 Mark pro Monat veranschlagt. Früher habe sie sich nach der Frühschicht oft vor Müdigkeit noch hinlegen müssen. „Wenn ich dann wieder aufgewacht bin, war der halbe Nachmittag schon weg. Heute hat man den ganzen Nachmittag noch vor sich“, berichtet die Bandarbeiterin, die in ihrer Freizeit noch ein „Fingernagelstudio“ betreibt.

Auch die 45jährige Karin Keitel empfindet die neuen Arbeitszeiten als große Erleichterung. Sie arbeitet im Drei-Schicht-Betrieb in der Lackiererei und lebt im eigenen Haus in der benachbarten Kleinstadt Gifhorn. „Ich habe in jeder Schicht meine fünf bis sechs Stunden Schlaf“, sagt sie beiläufig und schwärmt vom neuen Gefühl des frühen Feierabends: „Wie schön ist es doch abends im Sommer, wenn ich um halb acht nach Hause komme und die Sonne scheint noch.“ Von ihren Kolleginnen und Kollegen hat die gewerkschaftliche Vertrauensfrau immer wieder gehört, daß der „Schichtwechsel zu Hause“ in den Familien nun erleichtert werde. Früher, sagt sie, wären die Familien häufig nur am Wochenende zusammengekommen. Heute dagegen könnten sie jeden Tag am Abendbrottisch zusammensitzen – ein Gewinn an gemeinsam verbrachtem Alltagsleben, der kaum in Geld aufzuwiegen ist.

Auch für Karin Keitel ist die Betreuung ihrer beiden Enkelkinder leichter geworden. Einen Teil der Kosten für die Tagesmutter kann sie nun einsparen. Aber obwohl sie all die Vorteile der neuen Arbeitszeitregelung durchaus farbig zu schildern weiß: vor die Entscheidung zwischen Zeitgewinn und Geldverlust gestellt, würde sie angesichts der finanziellen Belastungen für Haus und Hobbys (Reiten) letztlich doch lieber zum früheren Zustand zurückkehren.

Die Entscheidung darüber steht im Laufe des Jahres 1995 an. Der Tarifvertrag über die 28,8-Stunden-Woche in den inländischen VW-Werken läuft bis Ende 1995. Management, Betriebsrat und Gewerkschaft werden also spätestens nach den Sommerferien des kommenden Jahres darüber verhandeln, ob das VW-Experiment wieder rückgängig gemacht oder auf Dauer installiert werden soll. Die Meinungen darüber sind so vielfältig wie die Einzelregelungen in den Werken und Abteilungen des Konzerns. Rund 150 Arbeitszeitmodelle gibt es allein im Werk Wolfsburg, berichtet Betriebsrat Hans-Jürgen Uhl.

Noch versuchen die Beschäftigten, sich mit ihren veränderten Arbeitsbedingungen zu arrangieren. Aufgrund der unterschiedlich großen „Personalüberhänge“ gebe es einen starken „Rüttelprozeß“ in den Abteilungen mit einer Unzahl arbeitsorganisatorischer Veränderungen und vielen Versetzungen, berichtet Erika Stetz, Vorsitzende des Betriebsratsausschusses zur Gleichstellung der Frau. Das bringt Unruhe ins Werk. Zwar hätten fast alle Beschäftigten seinerzeit unter dem Druck drohender Massenentlassungen dem neuen Arbeitszeitmodell zugestimmt. Aber jetzt, in der Phase der Umsetzung, habe sich die anfangs positive Stimmung verschlechtert, würden oft nur noch die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten gesehen: Fahrgemeinschaften vieler Pendler fielen auseinander und müssen neu aufgebaut werden, in manchen Abteilungen mache sich Unzufriedenheit über Leistungsverdichtung breit. Und Ende Juni werden die VW-Beschäftigten erstmals auf ihrem Konto feststellen, daß es die Arbeitszeitverkürzung nicht umsonst gibt: zu diesem Zeitpunkt wurde bis 1993 immer das Urlaubsgeld ausgezahlt, das nun zusammen mit anderen Sonderzahlungen auf die Monatslöhne umgelegt wird.

Dennoch sieht Erika Stretz viel mehr Vor- als Nachteile, insbesondere für die Frauen: die Arbeitszeiten sind menschen- und familienfreundlicher geworden, der aus Zeitnot entstandene Streß außerhalb der Arbeit hat sich deutlich vermindert, die Menschen haben größere Möglichkeiten, am öffentlichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Für viele Teilzeitbeschäftigte, also vor allem Frauen, habe sich der Abstand zur neuen Normarbeitszeit deutlich verringert oder gar aufgehoben, was nicht nur finanzielle Vorteile bringe, sondern auch bislang wirkende informelle Diskriminierungen beseitige.

Im Gegensatz zu früheren Krisensituationen sei diesmal der Ruf „Doppelverdiener/innen raus“ in der Belegschaft nicht zu hören gewesen. „Noch maulen viele über die Schwierigkeiten der Umstellung“, sagt sie. „Aber in ein paar Monaten haben sie es akzeptiert und wollen es sich nicht wieder wegnehmen lassen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen