■ Goodwill Games: Orkan an der Newa
St. Petersburg (taz) – Durch St. Petersburg fegt seit Monaten ein „Orkan“. So nennen die russischen Sicherheitskräfte ihre großangelegten Säuberungsaktionen zu Ehren der 3. Goodwill Games. Superstar Carl Lewis kann getrost brillantenbehängt auf dem Newski- Prospekt flanieren, aus der Fünfmillionenstadt wurden Zehntausende unerwünschte, nicht registrierte Personen und sogenannte „kriminelle Elemente“ verbannt. Obwohl Bürgermeister Anatoli Sobschack erklärt hatte, man dürfe Menschen nicht „einfach einsammeln“, da „jetzt Demokratie herrscht“, berichten Einheimische von abseitigen Regionen, in denen die betreffenden Menschen zusammengepfercht worden seien.
Die Ordnungshüter freuen sich über ihre außerordentlich erfolgreichen Einsätze. Die Zahl der schweren Verbrechen sei im ersten Halbjahr des Jahres um 37 Prozent zurückgegangen, heißt es. 168 Gangstergruppen hätte man das Handwerk gelegt, 36 Clanchefs inhaftiert, Tausende Waffen und zentnerweise Sprengstoff beschlagnahmt und nebenbei 3.000 kriminelle Delikte aufgedeckt.
St. Petersburg wird in russischen Medien gern mit dem Chicago der 20er Jahre verglichen. Dort wütete Al Capone, hier die russische Mafia, die die Stadt zu einer der gefährlichsten Orte der Welt machte, „gleich nach Medellin, Miami und Moskau“, wie Einheimische spotten. Die Gangstersyndikate avancierten gar zu einer ernsthaften Bedrohung der Reformpolitik in Rußland, Präsident Boris Jelzin hat erst kürzlich einen Ukas über „unverzügliche Maßnamen zum Schutz der Bevölkerung vor Banditismus und anderen Erscheinungen des Organisierten Verbrechens“ verabschiedet. Bis zu 30 Tage dürfen die Sicherheitsorgane demnach verdächtige Personen ohne Gerichtsurteil festsetzen.
1993 wurden in St. Petersburg 875 Menschen ermordet. Immerhin sank die Zahl der Getöteten in diesem Jahr auf weniger als einen pro Tag. An allen Ecken der City, auf den Hauptstraßen und natürlich rund um die Sportstätten, patroullieren Milizionäre und dazu unauffällige junge Männer in knappsitzenden Anzügen. Big brother ist watching you. Die Angaben über die Anzahl der Sicherheitskräfte schwanken zwischen 13.500 und 40.000. Kein Problem in der nördlichsten Millionenstadt der Welt. Natürlich war das ehemalige Leningrad ein militärisches Zentrum der einstigen Sowjetunion mit Hunderttausenden Uniformierten, eine Garnisonsstadt. Vor 1991 arbeiteten 80 Prozent der Einwohner, ob direkt oder indirekt, ob als Industriearbeiter, Ingenieur oder Soldat, für den militärischen Komplex der UdSSR.
Jack Kelly, der Präsident der Goodwill Games Inc., freut sich mächtig über die Erfolgsmeldungen aus dem Polizeipräsidium. „St. Petersburg“, glaubt Kelly, sei „nicht mehr und nicht weniger sicher als eine Großstadt in den USA“. Die Newa-Metropole ein Zentrum des Verbrechens? Bürgermeister Anatoli Sobschak schüttelt nur den Kopf. Probehalber sei er mitten in der Nacht durch Nebenstraßen gelaufen, erzählt Sobschak grinsend, und er habe auf seinem Ausflug nicht einen einzigen Verbrecher getroffen.
Die Mafia ist dennoch allgegenwärtig, wenngleich in einer relativ harmlosen Ausführung: Die Taxi- Mafia. Für Ausländer wurden die Preise für eine Fahrt auf etwa zehn Dollar festgeschrieben. Vom Flughafen ins Zentrum werden jedoch 40 Dollar verlangt. Kein schlechtes Geschäft während der Goodwill Games.Jens Weinreich
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