Befreiung der Konsumenten

Binnennachfrage schiebt Japans Wirtschaft an  ■ Aus Tokio Georg Blume

Roppongi ist nicht wiederzuerkennen. Das weltbekannte Tokioter Mode- und Vergnügungsviertel, in den Boomjahren heimliches Zentrum der Metropole, verkümmert zum Billig-Einkaufsplatz. Den zahlreichen postmodernen Betonboutiquen ist die Kundschaft weggelaufen. Mit ihrem Innendekor aus feinsten Designerateliers wirken sie wie kleine Museumsstuben. Dagegen öffnete kürzlich in bester Roppongi-Lage ein Kleidersupermarkt – übrigens direkt neben dem sündhaft teuren Tempura-Lokal, wo vor Jahren eine einzige frittierte Krabbe an die fünfzig Mark kostete. Doch solche Exklusivität ist heute out, der Supermarkt ist in.

Dabei ließ sich den Japanern bislang nicht einmal der für die deutsche Konsumkultur zentrale Begriff des Preis-Leistungs-Verhältnisses erläutern. Schon eine direkte Übersetzung fiel schwer. Vielleicht hatten sich die Japaner zu sehr daran gewöhnt, daß ihre Ladenpreise von der Industrie fest vorgegeben waren und sie zudem ein teures und vollkommen veraltetes Vertriebssystem finanzierten. Außerdem mußten sie auch noch die Dumpingpreise im Exportgeschäft kompensieren. Die Endleistung für den Verbraucher spielte also in der Preispolitik bisher eine untergeordnete Rolle. Das Gefühl, mit den hartverdienten Yen einer undurchschaubaren Preismanipulation ausgesetzt zu sein, trieb sogar Normalverdiener dazu, fünfzig Mark für eine Krabbe hinzulegen.

Indessen erweist sich nun das früher gut besuchte Tempura-Lokal in Roppongi als von der Kundschaft verlassen, während sich wenige Schritte weiter Dutzende in den besagten Supermarkt drängen. Tatsächlich handelt es sich bei dem neuen Geschäft um einen Discount für Designerklamotten, wo sich nun ein Yves-Saint-Laurent-Hemd zum Preis einer Krabbe erstehen läßt. Nicht nur bei den Preisen setzte der Laden neue Maßstäbe: Die Öffnungszeiten sind von 17 bis 24 Uhr angesetzt. Auf einer Ladenfläche von 400 Quadratmetern arbeiten nur vier Angestellte.

Professor Kenneth Courtis, Chefökonom der Deutschen Bank in Tokio, geriet bei dem Anblick des Wunders von Roppongi in Begeisterung: „Mit solchen Geschäften beginnt eine Revolution“, prophezeite er. „Achten Sie nur darauf, welche Läden in Japan heute Wachstum erwirtschaften.“

Wenn die Trendzahlen der Deutschen Bank in Tokio stimmen, dann hat die längste Rezession seit Kriegsende hier tatsächlich einen neuen Verbraucher geboren: preisbewußt, immer auf der Suche nach dem Sonderangebot und nicht zuletzt auch mit dem Blick auf billige Importartikel. Immerhin verbuchten Billigvertreiber wie Versandketten, sogenannte „Convenient stores“ und Discountläden wie in Roppongi im Rezessionsjahr 1993 durchschnittlich acht Prozent Wachstum. Bereits 42 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes wurden hier erwirtschaftet.

Traditionelle japanische Kaufhäuser, die rund um die Welt für hervorragenden Service und horrende Preise berühmt wurden, mußten hingegen starke Verluste hinnehmen. In Berlin beispielsweise gab die Mitsukoshi-Kette ihre Niederlassung trotz hoher Investitionen nach nur vier Jahren wieder auf, weil die deutschen Kunden den japanischen Service nie zu würdigen wußten. Ähnliches könnte nun auch in Japan bevorstehen.

Zeit dafür ist es längst. Noch immer liegen die japanischen Einzelhandelspreise 80 Prozent über dem Durchschnitt der westlichen Industrieländer, errechnete die OECD. Ein Liter Milch kostet in Tokio umgerechnet 3,16 Mark, eine Dose Coca-Cola 1,74 Mark. Daraus ergibt sich der Spielraum für die in aller Munde befindliche kakaku kakumei – übersetzt: Preisrevolution. An ihrer Spitze reitet derzeit die Großhandelskette Daiei, die auch Markenprodukte unter eigenem Namen verkauft, wie es bei Penny oder Kaiser in Deutschland üblich ist. Der deutschen Bayer AG in Japan gelang dabei der Coup, unter Daiei-Namen die in Japan bislang kaum erhältlichen Agfa-Filme einzuführen – und zwar zur Hälfte der Preise der Marktführer Fuji und Kodak.

Währenddessen verspricht Daiei-Chef Isao Nakauchi seinen Kunden noch mehr solcher Späße: Kanadische Cola verkauft er bereits für 60 Pfennig die Dose. „In drei Jahren werden alle Daiei-Produkte nur noch die Hälfte kosten“, prophezeit Kakumei-Held Nakauchi, der glücklicherweise zu den höchstverschuldeten Unternehmern des Landes zählt und deshalb mit aller Macht nach neuen Gewinnchancen sucht.

„Die Preisrevolution in Japan ist deshalb so wichtig, weil sie den Verbrauchern erstmals eine Entscheidungsfreiheit über den Vertriebsweg einräumt“, sagt Hiroshi Okumura, Forschungsdirektor beim japanischen Wertpapierhaus Nomura. Discount oder Kaufhaus, Preisorientierung oder Serviceorientierung – darunter könnten die Japaner nun zum ersten Mal selbst wählen. Früher gab es die Billigoption schlichtweg nicht. „Japan unterzieht sich einem schlumpeterschen Wandel“, erkennt Masaru Yoshitomi, Vizepräsident der Long-Term Credit Bank of Japan, in Anlehnung an den US-Ökonomen. Schlumpeters Theorie zufolge können Preisentwicklungen das Verhältnis von Produzenten und Händlern langfristig ändern.

Die Bemerkungen der beiden Elite-Volkswirte Okumura und Yoshitomi, deren Karriere eng mit dem Erfolg der japanischen Industriepolitik und der einseitigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung an den Interessen der Produzenten verwoben ist, haben dabei Geständnischarakter. Inzwischen sehen nämlich auch die japanischen Wirtschaftsführer ein, daß Wachstum in Japan nur noch eine Chance hat, wenn die Verbraucher mitziehen. Das nämlich ist die eigentliche Sensation nach drei Jahren Rezession: Nicht von oben, von den großen Firmen oder der mächtigen Bürokratie, kommt die rettende Krisenstrategie, sondern von unten – von Herrn Tanaka und Frau Watanabe, deren Kaufverhalten neue Absatzmöglichkeiten eröffnet. Der erneute Regierungswechsel vor drei Wochen hat hingegen wenig Einfluß auf die Wirtschaftsentwicklung.

Nun war Japan nie eine reine Exportwirtschaft. Der Anteil der Ausfuhren am Bruttosozialprodukt lag hier selten höher als bei 12 Prozent – in der Bundesrepublik ist er heute wieder mehr als doppelt so hoch. Dennoch sorgten vor allem die raschen Exportzuwächse in den siebziger und achtziger Jahren für hohe Wachstumsraten in Japan. Inzwischen aber ist der Yenkurs auf solche Höhen gestiegen, daß sich mittelfristig aus dem Exportgeschäft keine weiteren Wachstumsaussichten mehr ergeben. Vielmehr geht in Japan die Angst um, daß viele Firmen ihre Fabriken aus der Heimat abziehen und nur noch im Ausland produzieren. Andersherum heißt das: Wer in Japan weiteres Wachstum will, kann nur noch auf die Binnennachfrage setzen.

Der Gouverneur der Zentralbank, Yasushi Mieno, hat das voll und ganz eingesehen: „Der Verbrauch der privaten Haushalte befindet sich im langsamen Aufschwung. Deshalb glaube ich, auch wenn Unsicherheitsfaktoren wie etwa der hohe Yenkurs existieren, daß die Wirtschaft insgesamt endlich wieder im Aufschwung begriffen ist.“ Das sagte Mieno am letzten Donnerstag und sprach damit das erste Mal seit drei Jahren vom bevorstehenden Aufschwung.

Wenn diese Vorhersage, die inzwischen auch von den meisten privaten Wirtschaftsinstituten in Tokio geteilt wird, wie geplant bis Ende dieses Jahres eintrifft, wäre die kakaku kakumei perfekt. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt könnte dann nicht mehr am Verbraucher vorbei regiert werden.