Bene tibi: Marzahns Erzählungen aus dem Bremer Ratskeller (2)

Es folgt die Fortsetzung jener seltsamen Geschichten, die sich nicht erst seit Wilhelm Hauffs Zeiten (s.o.) um den Geist des Bremer Ratskellers ranken. Christian Marzahn hat sie aufgeschrieben, als persönliche Vision; der von ihm hinterlassene Text wird voraussichtlich in der edition Temmen erscheinen.

Die Domuhr schlug Mitternacht, verhalten, wie von weit. Kein Hört, ihr Herrn und laßt Euch sagen: Stattdessen sirrten die Kassenmaschinen in der Großen Halle. Die letzten Rechnungen wurden verbucht, und auch die trinkfesten Gäste verließen nun den Keller. Dann ging das Licht aus und wirklich wie bei Hauff wurde die Eingangstür mit einem mächtigen Knall zugeschlagen. Langsam verlor sich das Echo im Keller. Ich hörte, wie der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde, Schritte, die sich entfernten. Dann war ich allein.

Da sitze ich nun, im milden Schein der Kerzen, bei meinem Wein. Der erste ist ein fruchtiger Wein von der Nahe, und ich trinke das erste Glas auf das Wohl des edlen Spenders. Noch kann ich es kaum fassen, daß der Traum Wirklichkeit geworden ist. Aber was würde er mit sich bringen? Was würde ich erleben in dieser Nacht? Würde ich überhaupt etwas Besonderes erleben? Ich verzeichne einige Notate im Tagebuch.

Aus der Stille, die mich umgibt, erhebt sich ein seltsames Geräusch, zuerst von fern, dann an Stärke zu- und wieder abnehmend, bis es sich ganz verliert. Eine Straßenbahn ist wohl links über mir vorbeigefahren. Plötzlich ein scharfer Schlag. War das am Fenster? Nein, eher an der Tür, von wo ich jetzt auch Stimmen höre. Und da bewegt sich etwas, wohl eine Gruppe später Zecher, die ungestillten Durstes abziehen müssen. Schon ist es wieder still.

Ich entkorke den nächsten Wein, einen Riesling aus dem Rheingau. Ihn widme ich meinem hoch verehrten Landsmann Wilhelm Hauff. Niemals wieder hat jemand den Rheingau und seine Weine so herrlich, so köstlich und so begeistert besungen wie dieser schwäbische Poet. Bene tibi!

Drüben in der Halle höre ich jetzt wieder das Brausen, ein anhaltendes Brausen, das schon die ganze Zeit da war und auch die ganze Nacht nicht verstummt, wie eine ferne Meeresbrandung. Die Wirklichkeit ist vermutlich weniger poetisch. Die Klimaanlage?

Um Mitternacht waren noch zu viele Gäste im Keller gewesen. Kein Geist hatte sich gezeigt. Nun geht es auf eins. Unterseeisch-gedämpft erklingen die Schläge der Domuhr und es passiert nichts. Ich bemerke, daß ich angefangen habe, mit mir zu plaudern. Wie anders nun meine Stimme klingt, nicht mehr gedämpft durch die allgemeinen Geräusche der Geselligkeit. Und wie schön es klingt, wenn man nur leicht gegen das Glas schlägt. Der Ton schwingt lange nach, wie der Geschmack des Weins im Gaumen, und so klar wie der Wein im Glase.

Da sind wieder Schritte. Nicht im Keller, sondern oben unter den Arkaden. Ich werfe einen Blick auf den Eingang. Stehen da wieder Leute? Nein, es bewegt sich nichts. Und schon sind die Schritte verklungen.

Ich will mich ein wenig im Keller umsehen. Ich kenne ihn ja leidlich, und doch ist er mir jetzt ganz fremd, sogar unheimlich. Die Bilder im Hauff-Saal sind nur noch schwarze Flächen. Das Licht meiner Kerzen ist zu schwach, um ihnen ihre Farbe zu entlocken. Die große Halle erscheint nun endlos tief. Die Wein-Fässer und die Priölken gegenüber sind große, schwarze Höhlen, die ins Dunkel führen. Ob sie dort irgendwo verbunden sind?