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Man hat sie lebendig begraben

Um 21.21 Uhr muß im Schiller-Theater der Pausenvorhang zugezogen werden, ansonsten gibt es kaum etwas zu tun und die Technikermannschaft wartet auf die endgültige Abwicklung  ■ Von Thorsten Schmitz

Der beste Platz im Schiller-Theater kostet heute mehr als ein taz- Redakteur im Schnitt pro Tag verdient: 114 Mark. Die bunten Fotos vom Tingeltangel-Musical „Crazy for You“ in den Schaukästen hat ein „Berliner Photofachlabor“ entwickelt, auf der Bühne trällern aseptische Twentysomethings ausschließlich amerikanisches Englisch. Das Programmheft kostet, zum Entsetzen vieler BesucherInnen, 15 Mark, golfballgroße Lachsschnittchen sechs. Gute Zeiten, schlechte Zeiten?

Die zuverlässigste Konstante in jedem Theater ist der Pförtner. Der des Schiller-Theaters sagt, er habe jetzt die Möglichkeit, fünf Sprachen zu sprechen. Selbstverständlich kann er aber auch von anderen Veränderungen berichten. Wer zwölf Jahre am Bühneneingang sitzt, dem entgeht wenig. „Bei Gästen entsteht kein Gesamthauskonsens“, sagt der studierte Volkswirtschaftler. Und der Kontakt zu früheren Schiller-Theater-Angestellten verflüchtige sich spürbar. „In zwei Jahren ist da gar nix mehr.“ Denn: Der Alltag ist eine „drückende Determinante“. Zu Musicals hat der Pförtner ein leidenschaftsloses Verhältnis: „Wem's gefällt ...“

Das Schiller-Theater jetzt ist ein einziges Früher und Heute. Früher, das war vor dem letzten Sommer, als das Schiller-Theater noch eine Staatsbühne war und 42 Millionen Mark jährlich kostete – die Geschichte ist bekannt. Die letzten Überlebenden des „beispiellosen Gewaltakts“ der Schließung (Schiller-Theater-Mitarbeiter am 23. Juni in einer Protestresolution), eine Handvoll Techniker und der Pförtner, versehen heute noch ihren Dienst. Mit nur einem Unterschied zu gestern: Man hat sie lebendig begraben.

Sie arbeiten im Schiller-Theater, weil dies ja „keine Maschine ist, die man einfach in die Ecke stellen kann“, sagt der Pressesprecher des Kultursenators, Reiner Klemke. Sie kennen das Haus in- und auswendig, können es meisterhaft „fahren“, wissen, wo Notausgänge und wichtige Schlüssel liegen, wie die hochkomplizierte und millionenschwere Technik funktioniert. Und außerdem steht in der Versammlungsstättenverordnung, daß eine Art Not-Crew anwesend sein muß, wenn im Haus gesteppt wird.

Die Techniker garantieren bis zum letzten Moment, daß ihre eigene Abwicklung nach gesetzlichen Bestimmungen erfolgt. Vieles spricht dafür, daß der Senat diese letzten Altlasten der Schiller- Theater-Auflösung mit Hochdruck bis zum 31. Dezember entsorgt. Fast alle sind umgesetzt, mit einem insgesamt einstelligen Millionenbetrag abgefunden oder auf eine obskure Überhangsliste gesetzt worden, die ihnen einen Job garantiert, wenn irgendwo einer frei wird. Was – übrigens – alle Schaltjahre passiert.

Im Senat spricht man vom „Runterschmelzen“ der verbliebenen Mannschaft. Die Techniker verflüssigen, um dem Theater- und Konzert-Tycoon Peter Schwenkow das Theater im Herbst besenrein zu übergeben. Ob der Musical-Großverdiener eine Miete von 11.000 Mark akzeptieren und die Techniker-Kernmannschaft übernehmen wird, darüber muß noch verhandelt werden.

Die Techniker können, im Gegensatz zu Mitarbeitern mit Aushilfsverträgen, nicht einfach auf die Straße gesetzt werden. Man muß sie mit einer Abfindung ruhigstellen oder an andere Bühnen versetzen. Wer wohin kommt, oder wieviel Schweigegeld erhält, ist das Geheimnis des Senats. Oft nur gerüchteweise erfahren die Techniker von Senatsverfügungen. Als Dank für diese Ungewißheit streicht man ihnen ab 1. August die monatliche Theaterbetriebszulage in Höhe von rund 700 Mark. Begründung: Sie arbeiteten ja gar nicht mehr richtig am Theater.

Früher war alles ganz anders. Das heißt auch: aufregender. Da fuhren die Techniker auf Gastspiele nach Israel und Dublin, man zitterte bei jeder Aufführung mit, ob technische Finessen klappten, und wenn sie klappten, war die Freude groß.

„Wir waren wie eine große Familie“, sagt Werner Hohmann, dessen Aufgabe heute bei „Crazy for You“ darin besteht, am Schnürboden drei Seile rauf und runter zu ziehen. „Theater ist wunderschön“, sagt Hans-Jürgen Hageneuer, 50, noch Technischer Direktor: Wenn Bernhard Minetti „mit seiner Stinklaune jeden anmachte“, als Einar Schleef mit seinen endlosen „Faust“-Proben „uns am Leben gehalten hat“.

Hageneuer, der gegen seine Kündigung in erster Instanz erfolgreich geklagt hat, versieht seinen Dienst pflichtbewußt wie eh und je. Allein, die Aufgaben sind ihm abhanden gekommen. Vor der Schiller-Theater-Wende entwickelte er zusammen mit Regisseuren beispielsweise einstürzende Balkone. Heute kontrolliert er Bestellscheine, unterschreibt Rechnungen. „Ich langweile mich zu Tode“, sagt er. Früher hat das Theater in der Bismarckstraße jährlich zwischen 20 und 25 Inszenierungen produziert, heute keine einzige mehr. „Das ist wie eine Vollbremsung“, sagt Hageneuer. „Hoffentlich vergammele ich nicht.“

Voll gebremst sitzen vier Techniker im Souterrain des Schiller Theaters. Gucken Fernsehen, trinken Bier, rauchen. Um 21.21 Uhr müssen zwei den Pausenvorhang zuziehen, andere später drei Wände bewegen. Ansonsten „schlagen wir die Zeit tot“, sagt Werner Hohmann, 57. Das Haus kenne er seit 22 Jahren. Früher „konnte man sich blindlings vertrauen, wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft“.

Heute leiden er und seine paar verbliebenen Kollegen an chronischen Magenschmerzen und an Schlaflosigkeit. „Diese Ungewißheit geht auf die Psyche“, das Gefühl der Überflüssigkeit „ist deprimierend“. Auf Schwenkow wollen sich die meisten nicht verlassen: „Wer garantiert uns, daß er uns behält?“ Niemand.

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