: Architektonisches Juwel
Hue in Zentralvietnam, die alte Kaiserstadt der Nguyen-Dynastie, zählt zu den wichtigsten Touristenattraktionen des Landes. Doch der Zahn der Zeit und zwei Kriege haben das „Weltkulturerbe“ der Unesco arg ramponiert ■ Von Thomas Roser
Rechts überholt keuchend ein „Cyclo“-Chauffeur, der sein Rikscha-ähnliches Gefährt gleich mit zwei Marktfrauen und deren Gemüsekörben beladen hat. Von links schneidet eine auf einem Fahrrad gepackte Kleinfamilie die Spur. Nicht nach hinten schauen, immer auf den Vordermann und den Lenker blicken. Wer sich umdreht, verliert das Gefühl für den Rhythmus und den Takt, der das scheinbar so unorganisierte Treiben beseelt.
Alles gleitet, alles fließt – auch ohne „Reißverschluß“-Einfädelverfahren, „rechts vor links“ und anderen ehernen Gesetzen europäischer Verkehrskultur. Stören in anderen Städten Vietnams immer mehr motorisierte Untersätze den reibungslosen Fluß der Fahrradmassen, kreuzen in Hue nur wenig Blech-Symbole eines neuen Wohlstands durch die Innenstadt: Der bescheidene Wirtschaftsboom, der vor allem den Süden des Landes erfaßt hat, ist an der alten Kaiserstadt in Zentralvietnam spurlos vorübergegangen.
„Wir sind eine arme Provinz“, seufzt unter einem gigantischen Portrait von Ho Chi Minh der Vorsitzende des Volkskomitees der Provinz Hue, Pham Ba Dien. Jedes Jahr wüte mindestens ein Taifun in der Region. Von den Stürmen im Norden und Süden bekomme das ohnehin rückständige Zentralvietnam auch noch gehörig etwas zu verspüren. Im Sommer herrsche große Trockenheit, im Winter suchten nicht weniger als drei Sturmfluten die verarmten Küstenregionen heim. Knapp die Hälfte des Landes sei seit den Entlaubungsaktionen der US-Armee als unfruchtbar klassifiziert: „Durch Reisanbau können wir niemals eine reiche Provinz werden: Hier ist allenfalls Selbstversorgung möglich.“
Auch die Hoffnung auf die Ansiedlung neuer Betriebe hat sich trotz der Hinwendung zu marktwirtschaftlichen Prinzipien bislang kaum erfüllt: Wegen einer schlechten Infrastruktur und mangelhafter Transportanbindungen lassen sich ausländische Investoren nur selten in das beschauliche Hue locken – kein Wunder, daß Pham Ba Dien darum auf die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr setzt: „Der Tourismus spielt eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsleben unserer Provinz.“
Im Gegensatz zu den benachbarten Khmer, die sich mit den Tempelanlagen von Angkor Wat ein architektonisches Denkmal setzten, galten die Vietnamesen noch nie als große Baumeister. Tempel- und Palastanlagen aus Holz waren in dem tropischen Klima nur eine kurze Lebenszeit beschieden. Nahezu alle steinernen Zeugen der Geschichte fielen den unzähligen Feudalkriegen zum Opfer: Jahrhundertelang pflegten die vietnamesischen Kaiser-Dynastien die Paläste und Gräber ihrer Vorgänger dem Erdboden gleichzumachen. Lediglich Hue, von 1802 bis 1945 die Hauptstadt der Nguyen-Dynastie, präsentiert sich auch heute noch als architektonisches Juwel: Die Kaiserstadt mit ihren zahllosen Pagoden, Gräbern und Skulpturen zählt zu den wichtigsten Touristenattraktionen des Landes.
Vor dem wuchtigen Mittagstor, dem Haupttor der Kaiserstadt, dösen träge die Cyclofahrer in ihren Gefährten. Nguyen Van Hue, Konservator am „Hue Monument Conservation Centre“, hat uns bereits erwartet. Akribisch erläutert der Kunsthistoriker den Aufbau und die Planung der Kaiserstadt, mit der Kaiser Gia Long zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst die Herrscher in Peking an Glanz übertreffen wollte. Im Stile des französischen Militär-Architekten Vauban wurde die Zitadelle befestigt: Ein Wassergraben und ein zehn Kilometer langes Bollwerk aus Backstein sollten potentielle Eroberer von der Erstürmung des Kaisersitzes abhalten. Innerhalb der Zitadelle trennte eine weitere, sechs Meter hohe Mauer das gemeine Volk von der eigentlichen Kaiserstadt: Die Unesco hat sie 1986 zum Weltkulturerbe erklärt.
„Viel Geld hat uns das bisher leider nicht gebracht“, berichtet achselzuckend Nguyen Van Hue. 1993 flossen erstmals 200.000 US- Dollar aus Japan in die chronisch leere Kasse der Denkmalschützer. 1994 will die Unesco zusammen mit Japan weitere 400.000 Dollar für die Restauration der weitläufigen Anlagen zur Verfügung stellen. Die sind auch bitter nötig: Denn nicht nur der Zahn der Zeit, sondern vor allem die beiden Kriege haben den Baudenkmälern der Kaiserstadt sichtlich zugesetzt.
Was die Franzosen in den vierziger Jahren noch verschonten, wurde spätestens 1968 bei der berüchtigten Tet-Offensive zerstört. Während des vietnamesischen Neujahrsfestes eroberten die Truppen des Vietcong überraschend die drittgrößte Stadt Südvietnams. 25 Tage lang flatterte vom mächtigen Fahnenturm die Flagge der Kommunisten, bevor US-Truppen nach heftigen Bombardements und einem brutalen Häuserkampf die Stadt wieder unter ihre Kontrolle bringen konnten. Mindestens zehntausend Zivilisten starben, und besonders das Zentrum der Kaiserstadt hatte unter den Kämpfen schwer zu leiden: Von ursprünglich 76 Gebäuden der verbotenen Stadt sind heute gerade noch 3 erhalten.
Nur Eunuchen und die Konkubinen des Kaisers hatten Zugang zu der Stadt in der Stadt, der Wohnstätte des Kaisers. Dort, wo früher das Eingangstor zur „Verbotenen Stadt“ stand, erstreckt sich jetzt ein Sandplatz. Grasbüschel und Sträucher überziehen die Mauerreste. Der feine Nieselregen, der „Regenstaub“, wie die Vietnamesen ihn nennen, verstärkt den morbiden Reiz, den die verfallene Anlage ausstrahlt. Die Pläne für den Wiederaufbau habe seine Behörde bereits fertiggestellt, berichtet Nguyen Van Hue. Zweifel, ob die vier Millionen Dollar, die er als Kosten veranschlagt, ausreichen, wischt er beiseite: „Arbeitskraft ist in Hue sehr billig.“
In glänzender Pracht präsentiert sich bislang nur der frisch restaurierte Thronsaal. Zwischen achtzig rotlackierten Säulen nahm hier der Kaiser auf seinem erhöhten Thron die Huldigungen der Mandarine entgegen. Am Pavillon der Berühmten Seelen postieren sich einheimische Touristen zu einem neuen Gruppenbild vor den „Dynastischen Urnen“: Die neun auf vier Füßen thronenden Bronzegefäße sollten die Macht und Beständigkeit der Nguyen-Dynastie symbolisieren. Neben vietnamesischen Besuchern seien es vor allem Touristen aus Frankreich und Hongkong, die die Kaiserstadt von Hue besuchen, erzählt beim Abschied Nguyen Van Hue: „Deutsche habe ich bisher nur sehr selten getroffen.“
210.000 ausländische Touristen pilgerten bereits 1993 nach Hue – bis 1995 soll deren Zahl auf 500.000 steigen. Probleme bereitet den örtlichen Tourismusstrategen jedoch die geringe Bettenzahl: Von 2.000 Hotelbetten entsprechen lediglich 700 dem internationalen Standard – kein Wunder, daß diese ständig ausgebucht sind. Selbst Büros des Volkskomitees, die meist in liebenswerten, aber heruntergekommenen Kolonialbauten untergebracht sind, werden inzwischen zu Hotels umgebaut. Zur Bewältigung des erwarteten Ansturms der Touristenmassen sollen jedoch vor allem private Investoren für den Bau neuer Hotelbauten gewonnen werden: Wegen der Taifune dürfen diese allerdings nicht mehr als vier Stockwerke zählen. Derzeit profitiert die Provinz in erster Linie von dem innervietnamesischen Tourismus, der mit dem wachsenden Wohlstand in den wirtschaftlichen Ballungszentren sprunghaft zugenommen hat. „Die einheimischen Touristen kommen in größerer Zahl und haben weniger Ansprüche als die ausländischen Besucher“, erklärt Pham Ba Dien.
Von der Kaiserstadt führt die Radfahrt durch die ruhigen Wohnviertel der Zitadelle. Der blau- gelbe Anstrich der schmucken Häuschen harmoniert einträchtig mit dem saftigen Grün der Gemüsegärten. Über eine kleine Brücke verlassen wir den Mauerkoloß der Zitadelle und radeln einige Kilometer am „Song Huong“, dem „Fluß der Wohlgerüche“, entlang. Auf einem kleinen Hügel ragt der siebenstöckige Turm der Thien- Mu-Pagode in den aufklarenden Himmel. Hoch über den Ufern des Song Huong gelegen, zählt die Pagode zu einem der beliebtesten Ausflugsziele in Hue. In dem malerischen Pagoden-Garten üben sich die Mönche in der Kunst der Bonsai-Pflege.
„Ong Tao“, „König der Köche“, heißt das kleine Restaurant, das in einem ehemaligen Tempel residiert. Köstliche Frühlingsrollen und erlesenen Fisch kredenzt uns der Chef des Hauses, der dem Namen seines Etablissements alle Ehre macht. Bald gesellt sich der Herr vom Nebentisch zu uns: In Brandenburg habe er jahrelang als Ingenieur gearbeitet, berichtet er in fehlerfreiem Deutsch. Schnell ordert er einige Flaschen des in Hue gebrauten „Huda“-Bieres, um uns die vietnamesische Form des Zuprostens zu lehren: „Tram Phan Tram!“.
Ein rüttelnder Bus fährt uns zurück in die Vergangenheit. Im Sü-
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den der Stadt sind sie zu finden, die sechs Kaisergräber, die europäische Herrscher wohl eher als „Lustschlösser“ bezeichnet hätten. Zu Lebzeiten errichtet, sollten die schmucken Siedlungen ihrem Erbauer als letzte Ruhestätte dienen. Doch in den im Einklang mit der sie umgebenden Natur errichteten Grabstätten fühlten sich manche Herrscher so wohl, daß sie dort mehr Zeit verbrachten als im heimischen Palast. Die schönste Anlage ist sicherlich die des Kaisers Tu Duc. Von 1864 bis 1867 stampften dreitausend Zwangsarbeiter die fünfzig Gebäude in nur drei Jahren aus dem Boden. Als sie gegen ihr entbehrungsreiches Leben rebellierten, entließ der entsetzte Kaiser all seine Mandarine. Umgeben von grünen Hügeln pflegte der menschenscheue Monarch hier inmitten seiner hundert Konkubinen zu fischen und zu jagen. Dennoch starb der Kaiser unglücklich. Auf einer mächtigen Marmorplatte hat er in fünftausend chinesischen Schriftzeichen seine traurige Lebensgeschichte verewigt – und sich bei seinem Volk für die durch ihn erlittenen Mühen entschuldigt.
Der bröckelnde Mörtel und die blätternde Pracht der Grabanlagen wirkt wie ein Symbol für die Vergänglichkeit weltlicher Macht. Der Niedergang der Nguyen-Dynastie begann bereits unter Kaiser Tu Duc. Seine Nachfolger waren nur noch Marionetten der französischen Kolonialverwaltung. 1945 dankte der letzte vietnamesische Kaiser ab: Er lebt noch heute im französischen Exil.
Unter wogenden Palmwipfeln erstreckt sich perlweiß der einsame Strand von Tuan An, knapp 16 Kilometer von Hue entfernt. Im gleißenden Sonnenschein ziehen scherzend die Fischer ihre Boote mit dem kärglichen Fang an Land. Unter einer schattenspendenden Zeltplane warten fünf leere Liegestühle auf die Touristen, die es nur selten an diesen Hort der Stille verschlägt. Hue hat mehr zu bieten als nur Baudenkmäler – doch entwickelt ist der Badetourismus bisher kaum. Der verlegene Vertreter des örtlichen Volkskomitees hat indes auch gewichtigere Sorgen: Die malerische Kulisse des Strandes von Tuan An war bis vor kurzem noch der Schauplatz verzweifelter Ausbruchsversuche aus einem trostlosen Fischerdasein.
Tausend der achttausend Einwohner des Dorfes hatten einst als sogenannte Boat people von diesem Strand aus ihre Heimat verlassen. Vierhundert von ihnen sind aus den Auffanglagern Hongkongs bereits wieder zurückgekehrt. Doch die Probleme, die sie aufs offene Meer trieben, sind geblieben. Der Fischfang auf kleinen Schaluppen bietet den Menschen von Tuan An kein ausreichendes Auskommen. „Wir brauchen unbedingt ein größeres Boot“, erklärt Nguyen Hoai Thuong dem ausländischen Journalisten: „Könnten Sie nicht die EU bitten, uns ein solches zu finanzieren?“
Wirtschaftliche Not treibt manche Vietnamesinnen in ein ganz anderes Gewerbe. Offene Prostitution wie in Saigon gibt es in Hue noch nicht. Doch vor den wenigen Luxushotels der Stadt bieten herumlungernde Vermittler alleinreisenden Herren gerne die Dienste „wunderschöner“ Mädchen an. Seine Unschuld hat Hue längst verloren: überall in der Stadt warnen große Poster vor Aids. Ngo Thi Bich Coc, Vorsitzende der Frauengewerkschaft der Provinz, weiß um die negativen Folgen, die der Tourismus mit sich bringen kann: „Die Öffnung für den Tourismus bietet den Frauen neue Chancen und Beschäftigungsmöglichkeiten – aber wir müssen auf die Prostitution aufpassen.“ Im konservativen Hue sei diese bislang aber kaum verbreitet.
Wenn die Abenddämmerung sich über den Song Huong senkt und die Fischerboote in ein sanftes Licht taucht, ist die Fahrt auf dem Fluß am schönsten. Von den Dschunken winken ausgelassene Kindertrauben, Frauen waschen am Ufer Geschirr, mit wuchtigen Ruderschlägen transportieren Bauern ihre mit Schilf beladenen Boote über den Fluß. Eine sanfte Brise streicht über das Wasser, während die dreijährige Tochter unseres Kapitäns plötzlich mit zarter Stimme ein Lied anstimmt. Mit grazilen Armbewegungen begleitet sie ihren Gesang, der vom Aufstehen, Zähneputzen und Schlafengehen erzählt.
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