■ Schöner Leben - Extended Megamix
: Das Böse unter den Fingernägeln

Könnten Sie sich eingestehen, ohne Prinzipien zu leben? Oder, daß Sie nicht für die Richtigkeit Ihrer gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen einstünden? Sehen Sie, ich auch nicht.

Schon allein aus Selbsterhaltungstrieb, um mein, also das in seinen Grundfesten fertige Lebensgebäude eines Endvierzigers erdbebensicher zu machen. Bei Erdbeben fällt mir übrigens seit kurzem immer Venusbeben ein. Das klingt viel besser, und ich kann mir nicht vorstellen, daß dabei etwas kaputt gehen könnte, auf der Venus. Sehen Sie, ich kann es aus eigener Erfahrung einfach nicht glauben. Dabei empfinde ich weder einen spezifischen noch einen unspezifischen Mangel, obwohl ich mit gehöriger Selbstkritik im allgemeinen nicht geize.

Mit den Erkenntnissen zum Venusbeben, und das war ja nur ein Beispiel am Rande, geht es mir so ähnlich wie mit dem Bösen im Menschen. Ich sage – ungefragt, eben bei passender Gelegenheit und auf der Grundlage der gesicherten Erkenntnis – jedem Menschen ins Gesicht, daß das Böse in Form von Haaren, Finger- und Fußnägeln aus uns herauswächst und dann offenbar bearbeitet werden muß. Wie wäre es denn sonst zu erklären, daß zum Beispiel Frauen ihre aus ihnen herausdrängenden Haupthaare in Wellen legen oder gegebenenfalls in allerlei Farben bringen lassen („Ich tue mir was Gutes, ich gehe zur Friseurin..“) und sich danach wie neugeboren fühlen? Oder daß ab einem bestimmten Alter, wohl dem der Erkenntnis, intuitiv oder nicht, bei fast allen Menschen der Beschnitt der aus ihnen wachsenden hornigen Substanz zu erheblicher Erleichterung führt? Fahren Sie sich mal über Ihr gerade kurzgeschnittenes Haar, dann wissen sie wovon ich rede. Der Akt der Rasur und der anschließende streichende Griff ans Kinn endet nahezu ausnahmslos befriedigt, oder haben Sie sich morgens schon des öfteren ans Kinn gefaßt und gestöhnt: „Wie ekelhaft!“? In Ihrem eigenen Interesse, hoffe ich, doch nicht.

Oder denken Sie beim nächsten Beschneiden Ihrer Fingernägel mal an das Böse – dann, wenn Sie Ihre Hände wieder ansehnlich finden und Ihre sensiblen Fingerkuppen wieder imstande sind, Dinge wahrzunehmen, ungestört von zersplitterten, hornigen Auswüchsen. Der nebenbei hingeworfene Satz „Ich muß mir unbedingt meine Nägel machen“ ist der Ausdruck des Versuchs, mit dem zutage getretenen Bösen fertig zu werden oder es zumindest in eine vorübergehend akzeptable Form zu bringen. Sagen Sie nicht, Sie fühlten sich nicht besser, wenn Sie es getan haben! Sehen Sie, und ebensowenig kommen Sie mir jetzt mit der Forderung nach Beweisen, machen Sie doch mal selber Erfahrungen im Umgang mit Ihrem Bösen, das Sie zweifellos in sich haben. Sonst würde ja nichts aus Ihnen herauswachsen, über die Korrelation der ganzen Angelegenheit mit der Beichte will ich jetzt gar nichts hören.

Ein anderer Eckpfeiler im Gebäude ist die Sache mit den Fahrstühlen. Hier werde ich jetzt keine langen erkenntnisträchtigen Beweisführungen antreten, das kommt erst wieder beim dritten Beispiel, bei der Gänsehaut. Sie stehen also im Fahrstuhl, beim ersten Halt öffnet sich die Tür, es steigt jemand hinzu und Sie sprechen mit großer und innerer Überzeugungskraft aus, was Sie seinerzeit geahnt haben und jetzt sagen müssen: „Entschuldigen Sie, dieser Fahrstuhl fährt nur nach oben!“ Auf das „nur“ legen Sie eine leichte Betonung und Sie werden sehen, daß die meisten Menschen, sagen wir etwa 80 Prozent, wieder aussteigen. Auf ihren Gesichtern zeichnet sich die Erkenntnis ab, die Ihnen vorher schon innewohnte, das ist doch sehr schön und unmittelbar, dieses Erlebnis, nicht wahr? Und erfahrungsträchtig in der Art des Venusbebens, finde ich.

Für die Erdbebensicherheit meines Seins waren die Erkenntnisse um die Gänsehaut von fulminanter Bedeutung. Als mir die Tragweite bewußt wurde, habe ich sofort wieder an Venusbeben gedacht, aus Sicherheitsgründen. Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, wissen Sie was ich meine.

Nun, wer eine Gänsehaut hat, wiegt mehr. Die unzähligen kleinen Erhebungen, im äußersten Falle nahezu über die gesamt Oberfläche Ihres Körpers verteilt, führen natürlich zu Gewichtszunahme. Schließlich sind Sie ja mehr geworden durch diese Hügel, auf denen sich dann auch noch der Körperflaum gern und geradezu triumphierend aufrecht stellt. Natürlich wollen Sie Beweise, das kennen wir ja schon. Also, stellen Sie sich auf Ihre Waage, denken Sie an Dracula oder an Ihre LiebhaberIn, lassen Sie sich von Ihrer PartnerIn (wenn er/sie es nicht kann, schmeißen Sie ihn/sie raus!) eine Gänsehaut erster Güte einjagen, stellen Sie sich im Herbst ans offene Fenster, wenn Sie allein leben und beobachten Sie dann genau die Gewichtsanzeige! Ihre von leichtem Schauder begleitete Empfindsamkeit materialisiert sich durch akute Zunahme körperlicher und damit natürlich gewichtsträchtiger Substanz. Zweifeln Sie nicht, freuen Sie sich lieber darüber, daß Ihre Gewichtszunahme unmittelbar geregelt werden kann und das noch in höchst angenehmer Weise. Mäkeln Sie nicht kleinlich herum, probieren Sie es lieber aus.

Seitdem ich diese Erkenntnis gewinnen durfte, ist mein Leben wieder etwas anders geworden. Allein das Wissen darum hat Größe, finde ich.

Wenn Sie demnächst jemandem gegenübertreten, wie immer völlig vorurteilsfrei, dann denken Sie mal daran, daß sie oder er auch mehr wiegt, wenn die Gänsehaut kommt. Das erleichtert den Umgang mit den meisten Menschen. Lassen Sie es mal auf sich wirken. Falls Sie immer noch zweifeln, denken Sie hilfsweise an Ihre Haare oder Fingernägel. Albrecht Lampe