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Gefühle wie durch einen Schlauch

Der Weltkongreß „Entwicklung der Psychotherapie“ in Hamburg ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten für die Altstars der Szene / Bioenergetik-Papst Alexander Lowen therapiert auf offener Bühne  ■ Von Bascha Mika

Atmen Sie!“ donnert er in den Saal. „Breathe!“ Alles hält die Luft an. Vor Schreck, für Sekundenbruchteile. Plötzlich zischt und saugt und keucht es im Raum, als stünde eine Armee von Espressomaschinen unter Druck. „Aahh! Oohh!“ 1.500 Menschen lassen Dampf ab. „Atmen Sie!“ Rippen werden gedehnt, die gute Luft aus der Klimaanlage dazwischen gepumpt, wieder herausgepreßt. Pusten, Stöhnen. „Ja, sehr gut, schön seufzen. Je weniger Sie atmen, desto toter sind Sie.“

Luft holen für Alexander Lowen, in einem Workshop der Weltkonferenz „Entwicklung der Psychotherapie“ in Hamburg. Workshop heißt hier: die heimelige Atmosphäre des größten Saals im Kongreßzentrum. Und der ist gestopft voll. Und starrt auf die Bühne. Da tobt ein schmales Männchen herum, im sandfarbenen Anzug mit passenden Socken. Redet amerikanisches Englisch wie ein Wasserfall und gestikuliert üppig in alle Richtungen.

Da macht einer vor, daß bei ihm die Energien frei fließen. So wie es die Bioenergetik, die Alexander Lowen erfunden hat, in ihrem Therapiekonzept will.

„Atmen Sie!“

Bis zum gestrigen Sonntag konnte sich die internationale Psycho-Gemeinde auf dem Markt der Möglichkeiten tummeln. Kognitive Psychotherapie, Rational- Emotive-Therapie, Focusing, Realitätstherapie, Transaktionsanalyse, Strategische, Systemische und Strukturelle Familientherapie ... Therapie ... Therapie ... Therapie. Fünf Tage lang.

„Ziel dieser Konferenz ist“, erläutert Veranstalter Bernhard Trenkle von der Milton-Erickson- Gesellschaft für Hypnose, „verschiedene Schulen zusammenzuführen und die Psychotherapie insgesamt zu stärken.“ Auf reine Theorie wird weitgehend verzichtet. Statt dessen gibt es hier eine klinische Demonstration von William Masters, da eine Frage-Antwort-Runde mit Paul Watzlawick, dort einen Workshop mit Mara Selvini Palazzoli. 28 Referenten in 133 Veranstaltungen. Ein Mammutprojekt. Kirchentag ohne Gott, dafür mit Gurus. Bis auf drei Frauen sind alle Referenten alte Männer – Durchschnitt siebzig Jahre, Hauptvortrag vom neunzigjährigen Logotherapeuten Viktor Frankl – und fast alle gelten sie als Pioniere einer psychotherapeutischen Schule. Davon gibt es mittlerweile mehr als zweihundert.

„Atmen Sie, um Gottes willen“, faucht Lowen seine Gemeinde an. Die aspiriert brav. „I love him, he's great“, begeistert sich eine Ärztin aus London zwischen zwei Japsern, „ich arbeite selbst mit Bioenergetik. Wichtig ist, zu begreifen, daß das Leben aus dem Körper kommt.“

Doch im Saal lebt nur ein einziger Körper sich aus. Lowen lacht und springt auf, greift sich zur Demonstration mal hier an den Kopf und mal da zwischen die Beine und doziert: „Gefühle fließen durch den Körper wie durch einen Schlauch. Wie ein Wurm. Beim Menschen – da kommt der Wurm auf die Beine. Oben rein, unten raus.“ Lacht wieder, daß sich alle Falten im Gesicht biegen. 1.500 Menschen klatschen, johlen. Es ist ein Fachkongreß. Alle Teilnehmer sind Mediziner, Psychotherapeuten, Psychologen oder aus psychosozialen Berufen. Jetzt sind sie Jünger.

„Ich hab' keine Probleme, wenn Tausende von Leuten auf Kommando atmen“, sagt die Engländerin, „ich bewundere, daß so viele den Willen zum Experiment haben.“ Klar sei Lowen ein Schauspieler, klar benutze er sein Charisma. „Aber jeder Therapeut muß charismatisch sein.“

Das muß in Hamburg nur niemand mehr beweisen. Außer den hochbezahlten Referenten. Alle anderen der knapp fünftausend Anwesenden sind passive Konsumenten. Fachdiskussionen sind weder möglich, noch sind sie erwünscht. „Die Praxis der Therapeuten kann man aus ihren Büchern nicht herauslesen“, kommentiert Veranstalter Trenkle, „die machen oft was ganz anderes als das, was sie schreiben. Das wollte ich zeigen.“

Also belagern die TeilnehmerInnen die Büchertische, sammeln Prospekte von der „Phyllis- Krystal-Methode“ und dem „Chronischen Schwerzseminar“, streicheln die therapeutischen Handpuppen und schwappen als Masse mal vor dieses, mal vor jenes Podium. Dort putzen sie den Heiligenschein der Meister und hoffen, daß dabei etwas Glanz an ihnen klebenbleibt. Ellenlange Schlangen schieben sich bei der Signierstunde an den Tischen der Gurus vorbei. Zack! Ein Autogramm von Albert Ellis. Klick! Ein Foto vom Händedruck mit Otto Kernberg. Seelenexperten als eifernde Fans. Behauptet da jemand, Therapeuten sollten über ein hohes Maß an Selbstreflexion und innerer Autonomie verfügen?

„Atmen Sie!“

Alexander Lowen hat sich seines Jacketts entledigt. Die Videoleinwand hinter ihm wirft seine Gestalt – aufgeblasen zur Größe des wahren Meisters – überdimensional in den Raum. Thomas tritt auf die Bühne. Experimente am lebenden Menschen sind das beliebteste Spektakel und die Höhepunkte der Tagung. Seien es Traumdeutung, Hypnose oder Bioenergetik. Freiwillige Versuchsobjekte stehen immer bereit.

Ein Wink von Lowen, Thomas entledigt sich seiner Wäsche. Bis auf den Slip. Das Publikum pfeift anerkennend. Thomas wußte offenbar, was ihm blüht, er trägt Badehose. Der junge Mann ist Arzt und Therapeut, steht da mit Mikro und steifen Beinen und hat Probleme im Verdauungsbereich. Lowen: „Was für eine Beziehung hattest du zu deinem Vater?“ Thomas: „Mein Vater und meine Mutter hatten nie richtig Zeit für mich.“ Lowen: „Ich sehe eine große Unsicherheit in deiner Haltung, so wie du deine Knie durchdrückst.“ Thomas: „Früher war es noch schlimmer.“

Lowen zeigt auf ein Gerät, das aussieht wie ein zu klein geratenes Turn-Pferd. Thomas wird mit dem Rücken draufgepackt, der Brustkorb wölbt sich grotesk nach außen. „Schrei!“ befiehlt Lowen wie ein mittelalterlicher Folterknecht. „Aahh“, jammert Thomas. „AAAAHHHH“, brüllt Lowen in den Saal wie ein hungriges Raubtier. Das Publikum zuckt überreizt zusammen, dann tobt es los. Gut gebrüllt, Löwe! Thomas schreit.

Als 3. „Woodstock der Psychotherapie“ bezeichnet sich die Hamburger Psycho-Konferenz gern kokett. „Für die jüngeren Kollegen“, meint Bernhard Trenkle, „ist es eine einmalige Gelegenheit, sich die verschiedensten Ansätze anzusehen und festzustellen, was in Ordnung ist und was nicht.“ Bei den meisten Anwesenden kommt das Konzept voll an. „Faszinierend“, „spannend“, „unheimlich viele Eindrücke“ – Lobeshymnen.

Doch der Therapieforscher Klaus Grawe wundert sich. „Diese Art der Anbetung habe ich auf keinem anderen Kongreß erlebt. Es ist ein richtiger Zirkusbetrieb.“ Grawe, der durch kritische Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapien im eigenen Nest herumschmutzt, ist trotzdem offiziell geladen. Jedes System braucht, um zu funktionieren, eben auch seinen Sündenbock.

„Atmen Sie!“

Thomas schreit immer noch. Wie ein heiserer Muezzin. Lowen unterbricht: „Spürst du Trauer?“ – „Nein, eher Ärger.“ – „Das ist kein richtiger Ärger. Das sieht mehr nach Trauer aus. Du willst hier nicht weinen. Aber dein Körper sieht nach Weinen aus.“ Lowen in Richtung zum Publikum: „Thomas sagt sich jetzt, daß er stark sein will, um sein Weinen zurückzuhalten. Deshalb kann er nicht atmen.“

Aber Thomas muß lernen zu atmen. Also ab auf die Matratze, die auf der Bühne bereitliegt. Zweihundertmal mit den Beinen drauf rumgehackt und dabei „Warum!“ geschrien. Diese Übung habe er selbst im morgendlichen Hotelzimmer fünfhundertmal gemacht, erzählt Alexander Lowen stolz.

Thomas schreit und strampelt. Lowen ist das Hemd ein wenig aus der Hose gerutscht. Mit gütigem Gesicht zum Publikum: „Eigentlich kann ich auf der Bühne und vor so vielen Menschen nicht therapieren.“ 1.500 Menschen klatschen ihm zu. Er lacht über alle Kerben seines gut gehaltenen, 84jährigen Gesichts. Für Kritik ist der alte Mann taub.

„Es ist eine Gratwanderung“, sinniert Bernhard Trenkle, „ob jemand seine Eitelkeit im Griff hat.“ Kritiker Grawe sagt es härter: „Die meisten Wissenschaftler würden sich schämen, auf so einer spektakulären, unseriösen Veranstaltung aufzutreten. Wer von den Gurus hierherkommt, kommt aus Narzißmus.“

Narzißmus hat die unterschiedlichen Therapieschulen bislang in scharfer Konkurrenz gehalten. Das eigene Welt- und Menschenbild wurde mit Klauen und Zähnen verteidigt. Doch der Druck auf die Seelendoktoren wächst. Die Zeit der Schrebergärten ist abgelaufen. Wo Patienten und Gesundheitspolitiker die Dienstleistungen an Körper und Geist verschärft kontrollieren wollen – in der Bundesrepublik droht das Psychotherapeutengesetz –, haben sich die Standesvertreter zur taktischen Einsicht durchgerungen: Die Seele ist zu komplex, als daß sie von einer psychologischen Richtung vollständig begriffen werden kann.

Doch von dieser Einsicht sind nur wenige Hamburger Referenten angekränkelt. Hier geht es nicht um Kommunikation, sondern um die Verteidigung festgefügter Lebensprojekte, die brillant verkauft werden. Untereinander tut man sich so gut wie nichts, und das Fußvolk läßt man auflaufen. Paul Watzlawick, der wohl populärste Psychologe und Kommunikationstheoretiker der westlichen Psycho-Welt: „Das ,Warum‘ einer Störung ist in unserem Ansatz völlig gleichgültig.“ Teilnehmer: „Aber gerade das ,Warum‘ wird von Therapieforschern als einer der wichtigsten Faktoren genannt, die Therapie wirksam machen.“ Watzlawick. „Nicht in unserem Modell.“ Schluß der Debatte.

„Atmen Sie!“

Thomas hackt, siebzigmal, ist völlig ausgepumpt und jiepert nach Luft. Lowen: „Wie fühlst du dich?“ – „Leer.“ – „Thomas fühlt sich leer, weil er nicht weinen kann.“ Bewundernswerte Diagnose. Das Publikum applaudiert kräftig.

Thomas verläßt die Bühne. Nur wenige klatschen nicht. „Lowen ist mir sympathisch“, meint eine Psychologin aus München stirnrunzelnd, „aber was er hier mit den Menschen macht, ist respektlos.“

Eine schulübergreifende Psychotherapie, glaubt Kritiker Grawe, kann nicht von Meßdienern betrieben werden. Sie erfordert mündige Therapeuten, die die blinden Flecken der Hohenpriester sehen.

„Atmen Sie!“

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