: Endlich: Die Deutschen schwitzen aus Von Mathias Bröckers
„Zur Zeit habe ich Urlaub, kann mich aber nicht entschließen, den Koffer eigenhändig auf einen Bahnhof zu schleppen und den Kampf um einen Sitzplatz auf mich zu nehmen, dann in einem sogenannten Kur- und Badeort zu hungern, also bleibe ich in Berlin. Hier habe ich China geheim und die roten Seidenreiher von den Inseln am Delta des Amazonas – am Schreibtisch. Die Natur, in der es ja doch immer irgendwo zieht, ist auf diese Weise vereinfacht, und der innere Mensch bestimmt sich die Eindrücke, die er wünscht. Ein Schatten, der über mein Schreibblatt fällt, vermag mehr anzurichten als die ganze Natur und ihre realen Landschaften. Kunst ist die Asche des Geistes – so verkürzt sich der Weg.“
Was Gottfried Benn über die Reisen im Kopf seinem Freund Oelze schrieb, ist von Berlin aus vor allem in diesem Sommer aktuell. Dies ist meine erste Kolumne bei 36 Grad im Schatten, und wenn es tatsächlich „immer irgendwo zieht“ in der Natur, müßte man jetzt unbedingt dorthin – hier weht nämlich kein einziger Hauch. Mancher würde sogar liebend gern „hungern“ in einem Badeort, wenn er nur nicht mehr so unglaublich schwitzen müßte. Ein Königreich für eine frische Brise. An meinem Schreibtisch und hinter dicken Altbaumauern allerdings läßt es sich auch bei dieser tropischen Hitze recht gut aushalten – und in der heißesten Metropole Europas sind schließlich Beobachtungen zu machen, gegen die selbst das tollste Ferienidyll kaum anstinken kann.
Ich rede jetzt nicht von dem Komiker, der gestern um die Mittagszeit mit Thermohosen, Mantel, Handschuhen und Pelzmütze über die Wiener Straße stapfte und vor Begeisterung jauchzte. So was kommt auch bei Frost in Südkalifornien vor, wo sich Kältebegeisterte dann in Shorts und T-Shirt aalen. In Deutschland sorgt die Hitze für sehr viel einschneidendere Veränderung, und es wäre gut zu wissen, was ein aufmerksamer Beobachter und „Experte“ wie Doktor Benn dazu gesagt hätte: Die Hitze treibt den Deutschen das Deutschtum aus. Mit dem schneidigen Schritt ist es vorbei, auf den Straßen hat der afrikanische Schlurf Einzug gehalten, cool runnings statt „schaffe, schaffe“.
Immer langsam voran, heißt die Parole, und jedermann hat Verständnis, wenn allenthalben mit halber Kraft und jenseits der Kleiderordnung gearbeitet wird – die Hamstermentalität ist gebrochen. Wer denkt schon an den Winter bei 36 Grad im Schatten? Wenn überhaupt, dann nur in seliger Imagination von Frische und Kühle, und nicht ans Raffen und Vorräte-Horten, ans Überleben bei 20 Grad Frost.
Die Affenhitze bringt an den Tag, wie eng Lebensart, Nationalcharakter und Mentalität mit der Temperatur zusammenhängen – eine simple Selbstverständlichkeit, die bei all dem Gefasel ums Nationale nur zu gern vergessen wird. Der Skinhead fällt als erster um, wenn die Sonne richtig sticht, und auch der Wust von Sekundärtugenden wird nach und nach relativiert.
Stell dir vor, es kommen zehn Winter ohne Frost und zehn Sommer wie dieser – wir wären nicht mehr dieselben. Was zwei Weltkriege nicht geschafft haben – den Deutschen das Preußisch-Soldatische auszutreiben –, der Treibhauseffekt wird's richten.
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