: Eine Gefangene der Welt
■ Ein offener Brief der südafrikanischen Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer an Taslima Nasrin
Liebe Taslima Nasrin,
entsprechend dem berühmten Grundsatz der freien Meinungsäußerung werde ich Taslima Nasrins Recht verteidigen, gemäß ihrer eigenen Ansichten und Überzeugungen zu publizieren, auch wenn ich ihr Werk nicht kenne. Ich werde es ebenso verteidigen wie das jenes Schriftstellers, dessen Werk ich kenne und bewundere, Salman Rushdie.
Es ist unvermeidlich, angesichts dieser jüngsten Folge von Ereignissen an Rushdie zu denken – im Zeitalter arroganter religiöser Intoleranz, angesichts dieser Inquisition des späten zwanzigsten Jahrhunderts, die wir durchleben, in der Sterbliche sich den grotesken Anspruch göttlicher Autorität über Leben und Tod anmaßen. Als die Fatwa gegen Salman Rushdie ausgestoßen wurde, verwies ich wie viele andere Schriftstellerkollegen darauf, daß dies kein einzigartiges und außergewöhnliches Beispiel jener finalen Form von Zensur war: das Verdikt nämlich, daß nicht nur das Werk, sondern auch sein Autor vernichtet werden sollte. Es gab schon andere Beispiele für Unterdrückung von Autoren auf der Grundlage des Islam; doch diese geborenen oder gläubigen Muslime waren wenig bekannt in der westlichen Welt, die oft erst wachgerüttelt werden muß, um sich für kulturelle Probleme zu interessieren, die nicht ihre eigenen sind. Sogar als der Ägypter Nagib Machfus 1988 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde die Gelegenheit verpaßt, Alarm zu schlagen: einer seiner Romane, „Die Kinder unseres Viertels“ (dt. 1990), 1959 in Beirut veröffentlicht, aber in Ägypten verboten, war damals in seinem Heimatland, dem er so große Ehre eingebracht hatte, immer noch indiziert.
Schriftsteller sind niemals sicher, die freie Meinungsäußerung ist für niemanden jemals sicher, wenn das gesprochene oder geschriebene Wort unterdrückt wird, ganz egal wie weit entfernt, über welche Grenzlinien hinweg – ob nationale Grenzen, sprachliche oder kulturelle Differenzen – solche Erlasse in Kraft treten. Zucke mit den Schultern und drehe dich um, wenn sie Bücher verbieten, und schon versteht der Fanatismus den Fingerzeig und drängelt sich vor, um den Tod des Autors ebenso wie den Tod des Buches zu fordern. War das erst einmal einem Autor passiert, der sich unserer Aufmerksamkeit sicher sein konnte, Salman Rushdie, dann war auch klar, daß es wieder passieren würde – es sei denn, den Extremisten, die eine große Religion in eine Terrorbewegung verdrehten, würde unnachgiebig gezeigt, daß dies von Weltmächten nicht geduldet werden würde. Denn die Fatwas – und es gibt außer der tödlichen auch weitere, die andere Verletzungen der Menschenrechte verlangen – haben Einfluß über jene Kräfte hinaus, die ihnen in ihren ursprünglichen Gemeinschaften und Ursprungsländern Geltung verschaffen könnten. Wie Rushdie hat Taslima Nasrin keinen Ort, kein Land, in das sie vor der Gefahr fliehen kann. Politisch Verfolgte können sich gewöhnlich ein Exil wählen und finden irgendwo Asyl: aber religiöser Fanatismus beansprucht, Recht zu sprechen, das für alle seine verstreuten Anhänger gilt und akzeptiert dabei keine Restriktion durch weltliche Gesetze. Die tödliche Fatwa bedroht Nasrin, wohin auch immer sie geht, auch wenn das Risiko sich verringert, sobald sie Bangladesch einmal verläßt.
In der Welt ebenso wie im eigenen Land unter Risiko zu leben heißt, eine Gefangene der Welt zu sein. Es gibt nur einen Weg, Taslima Nasrin zu befreien, wie es nur einen Weg gibt, nach fünf Jahren, Salman Rushdie zu befreien: und das bedeutet für alle Regierungen, die die Menschenrechte respektieren, mit den Lippenbekenntnissen aufzuhören, wenn Schriftsteller bedroht werden, wirklichen Druck auf die Regierungen jener Länder auszuüben, in denen religiöser Fanatismus herrscht. Diese Regierungen, besonders die der Vereinigten Staaten, müssen sich bewußt werden, daß die Verfolgung von Schriftstellern eine andere Erscheinung des Fanatismus ist, der sie mit Sorge erfüllt – man denke an die Situation in Ländern wie Algerien, Nigeria, Ägypten. Es ist fast eine weltweite Bedrohung; heute dieses Land, morgen jenes. Sich dagegenzustemmen bedeutet nicht so sehr, den Islam als solchen oder die muslimischen Völker der Welt anzugreifen, sondern alle Völker von einem sektiererischen religiösen Despotismus zu befreien, wo auch immer und in welchem religiösen Glauben auch immer er die Gesetze der Menschlichkeit entweiht.
Ich habe gerade in „La République des Lettres“ vom 8. Juli ein Interview mit Taslima Nasrin gelesen und bin froh, sie dadurch ein wenig kennengelernt zu haben. Ihr augenfälliger Esprit und ihre vitale Intelligenz helfen ihr ganz offensichtlich in der schrecklichen Feuerprobe, in die sie als Schriftstellerin und als Frau, geworfen worden ist. An Mut fehlt es ihr nicht, aber vielleicht bedeutet es ihr etwas zu wissen, daß ich, wie viele andere Schriftsteller, Solidarität mit ihr fühle, daß ich tun möchte, was ich kann, um sie frei zu sehen, und daß ich denke, daß sie für uns alle steht, die es riskieren, das Wort für die Wahrheit einzusetzen, wie wir sie verstehen.
Nadine Gordimer
Johannesburg, 19. Juli 1994
Aus dem Englischen von Jörg Lau
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