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Bene Tibi: Christian Marzahns Erzählungen aus dem Bremer Ratskeller (10)

Der zehnte Teil jener seltsamen Geschichten, die sich nicht erst seit Wilhelm Hauffs Zeiten um den Geist des Bremer Ratskellers ranken. Christian Marzahn hat sie aufgeschrieben, als persönliche Vision, die er als „eine Miniature aus meinem Tagebuch und anderen bremischen Dokumenten“ festhielt. Der von ihm hinterlassene Text wird unter dem Titel „Bene Tibi“ in der Edition Temmen erscheinen.

Hauff war fassungslos. Endlich fragte er mit belegter Stimme: „Und warum habe ich damals nichts von alledem erfahren?“

„Weil Sie schon nicht mehr in Bremen waren, als die Verbrechen nach und nach ans Licht kamen. Denn auch die Aufklärung der Wahrheit hat sie als Inquisitin im Detentionshaus hintertrieben, wo immer sie konnte. Sie leugnete, gestand, widerrief, beschuldigte andere Person, ges-tand erneut und s-tritt dann wieder alles ab. Unsere angesehensten Gelehrten hat sie mit ihren Intrigen getäuscht wie etwa Herrn Dr. Olbers, der die Vergiftung ihres Sohnes Heinrich irrtümlich als Darmverschlingung diagnostizierte. Zu wirklicher Reue kam sie nie – und vielleicht“, setzte er mit einem Anflug kaustischen Witzes hinzu, „sollten Sie froh sein, daß Sie die Bekanntschaft dieses Frauenzimmers damals nicht gemacht haben. Wer weiß, ob Sie Bremen in guter Gesundheit verlassen hätten. Diese Unholdin hat den guten Namen unserer S-tadt auf das Schimpflichste bekannt gemacht und besudelt – bis hinüber nach Amerika. In hundert Jahren werden mehr Menschen wissen, wer diese da gewesen ist, als sich an mich erinnern werden.“

Gesche Gottfried weinte jetzt heftig. Sie rang nach Atem. „Oh, Herr Bürgermeister, wie gern pflegte ich jetzt alle, die von mir vergiftet sind. Wie gern würde ich den Schlaf entbehren, um nur etwas wieder gut zu machen.“ Sie preßte den Arm des Bürgermeisters in großer Bewegung: „Glauben Sie mir herzlich: Ich liebte geistige Getränke. Oft habe sie in der Vergangenheit einen Krug Wein aus dem Ratskeller geholt. Aber das schwöre sie hoch und heilig: Niemals habe sie etwas an den Wein gegeben. Niemals!“

Der Poet aus Schwaben an unserem Tisch hatte unterdessen seine Sprache wiedergefunden: „Können Sie uns sagen, Madame Gottfried, aus welchem Grunde Sie so entsetzliche Verbrechen begangen haben?“

„Ach, lieber Herr, ich muß mich schämen, es zu sagen; aber ich hatte keinen! Mir war gar nicht schlimm dabei zu Muthe. Ich konnte das Gift ohne die mindesten Gewissensbisse und mit völliger Seelenruhe geben. Ich gab es nicht mit Wahl der Personen, sondern denen Personen, die der Zufall mir zuführte.“

„Fürchterlich“, entfuhr es Hauff.

„Zuweilen war ich Monate lang von dem Triebe, etwas zu geben frei; dann kam aber wieder eine Periode, wo ich mit dem Gedanken aufwachte: Wenn die und die Person kommen sollte, solltest du ihr was geben. – Ich konnte es so kriegen, wenn ich des Morgens aufstand, daß ich etwas geben mußte. Ich konnte es des Abends so kriegen, daß ich, wenn das Essen auf dem Feuer hing, hinaufging und Mäusebutter holte und es daran gab. – Ich gab es aus bloßem Trieb, Mäusebutter zu geben, und aus gar keiner anderen Absicht.“

„Unerhörte Greuelthaten, wahrhaftig!“

„Memoiren des Satans“, sagte der Bürgermeister zu Hauff, „nicht wahr, Herr Doktor?“

Gesche Gottfried hatte aufgehört zu weinen. Gelegentlich aufschluchzend starrte sie ins Dunkel. „Von welchen Greuelthaten sprechen Sie, mein Herr? Mir geht ein Licht auf, alle leben! Sehen Sie! Sie alle leben noch! Sie haben ein Gegengift bekommen und so sind sie alle wieder besser geworden! Gott hat gesorgt, wie ich die That gethan, daß nun alle wieder gesund sind.“

Unwillkürlich folgten unsere Blicke ihren aufgerissenen Augen, konnten aber nichts erkennen. Unverändert lag die Große Halle in nächtlicher Finsternis. Verrucht oder verrückt? ging mir durch den Kopf; wer das wüßte.

Vor mir auf dem Tisch lagen, noch immer aufgeschlagen, Hauffs Phantasien. Ich würde wohl die Vorlesung von vorhin nicht wieder aufnehmen. So schloß ich denn behutsam das schöne Buch und war – allein. Einsam saß ich wieder an meinem Kerzentisch, meine Geister, die mir soeben noch Gesellschaft geleistet hatten, waren verschwunden. Die Kerzen flackerten; die Gläser waren alle noch da, und mein Weinvorrat hatte sich nicht vermindert. Ich fühlte mich wie jemand, der ein Abenteuer bestanden hat – ein wenig müde, erschöpft, aber auch glücklich, daß es gut ausgegangen war. Aber was für ein Abenteuer hatte ich denn bestanden, ja, was hatte ich heute Nacht überhaupt erlebt? Waren es denn „meine Geister“? Es waren Gestalten, mit denen ich seit längerem einigen Umgang gehabt hatte, und die mir in dieser Zeit vertraut geworden waren. Nicht, daß sie mir alle besonders sympathisch gewesen wären; aber jede von ihnen war ein apartes Stück Bremen und ein besonderer Spiegel dieser alten Stadt. Kamen sie aus dem Wein? Nun, alle schätzten ihn, aber sie waren nicht aus den Fässern des Rose- und Apostelkellers gekrochen. Sie waren alle die Treppe heruntergekommen – die gemalte, erdachte, erdichtete Treppe. – Ah, alles war ja ganz einfach! Das Buch, das geöffnete Buch vor mir – der ewige Wechselpfad, der aus dem und in das Reich der Geister führt.

Ich hatte das Bedürfnis, mich zu stärken mit etwas Brot und Wein. Und als ich von meinem Muskateller aus Württemberg genugsam gekostet hatte, fühlte ich mich bald erkräftigt, eine dritte Reise durch das dunkle Wein-Reich zu unternehmen. Ich ergriff meinen Silberleuchter und ging nochmals an Slevogts schönen Bildern entlang. Aber sie blieben dunkel. Nur das Bild mit der Treppe, vor dem ich ein wenig verweilte, ließ seine Geheimnisse erahnen. Wer mochte da schon herab- und hinaufgestiegen sein!

Durch die große Halle führte mein Weg an den anderen Keller-Katzen vorbei, die Stufen hinunter in den Bacchus-Keller. Der muntere, hölzerne Gott ritt sein Wein-Roß so vergnügt wie alle Tage. Er ritt es nicht im Schritt und nicht im Galopp, sondern in einer hüpfend-schlingernden oder hopsend-schaukelnden Gangart, die niemand sonst beherrschte. Wenn ich meine Kerzen etwas in die Höhe hob, benahm er sich gerade so, wie ihn sein schwäbischer Verehrer beschrieben hatte: Er verdrehte seine blitzenden Äuglein, baumelte und strampelte mit den kurzen Beinchen, winkte mit dem Kopf, so daß die Locken flogen, und blinzelte mir aufmunternd zu, als sollte ich hinter ihm aufsitzen. Dies schien nun doch etwas gewagt, zumal in meinem momentanen Zustand; so schlug ich das Angebot aus und verzichtete auf einen Ausritt durch den Keller. Aber, präpariert durch das Buch und, wie ich mir nun wohl nicht ganz grundlos schmeicheln durfte, im Umgang mit den Geistern ein wenig erfahrener als andere Sterbliche, konnte mich, was ich da sah, nicht mehr schrecken. Ich zwinkerte also dem fidelen Reitersmann meinerseits freudig zu, machte mich durch nachahmende und wunderliche Gebärden lustig über seinen Reitstil und verabschiedete mich mit einem alten Weinvers:

„So ist's am schönsten, vom Trinken nach Hause zu kommen: Nüchtern bin ich nicht mehr, aber auch nicht zu berauscht.“

Es war aber noch gar nicht Zeit, nach Hause zu gehen, sondern zurück zu meinem Tisch, um dem letzten Wein dieser Nacht die Ehre zu geben. Dröhnend ratterte oben die erste Straßenbahn vorüber. Es klang, als habe der Fahrer die Schienen verlassen, steuere direkt über das Kopfsteinpflaster und käme im nächsten Augenblick die Eingangstreppe herunter. Im letzten Moment muß er seine Schienen wiedergefunden haben. Ich aber saß nun wieder an meinem Tisch und öffnete den letzten Wein eine Lemberger Spätlese aus Weinsberg an der Weibertreu. Tief-, fast schwarz-rot funkelte der Wein im Glase. Ich schreibe: „Sonntag, den 1. September 19 ..., am Tag der Rose.“ Aber die Buchstaben und Wörter in meinem Tagebuch wollen nicht mehr recht zusammenstehen. Eins, zwei, drei ... die Domuhr schlägt sechs; kein Glockenschlag ist verlorengegangen.

Da – in weiter Ferne, noch hinter der Halle, ein neues Geräusch. Neue Geister? Kehren die alten zurück? Aber mein Buch ist geschlossen. Oder sind es die Reinemache-Frauen? Man hatte mir nicht gesagt, daß sie um diese Zeit kämen. Mit einem Schlag ist die Halle erleuchtet, gleichmäßig, mechanisch, grausam. Die Fässer sind wieder da, die Priölken, Tische und Stühle. Die Welt kehrt zu mir zurück.

Jetzt, noch immer weit entfernt, Schritte; auch Stimmen. Eine dunkelhaarige Frau kommt durch die Halle, betritt den dämmrigen Hauff-Keller, in dem noch immer meine Kerzen brennen. Sie sieht mich, grüßt und fragt, ob ich hier „arbeite“, d.h. saubermache. Es könnte eine Roma oder Sinti sein. Als ich ihre Frage, wahrheitsgemäß, verneine, scheint sie mit der Antwort zufrieden und geht weiter. Nach einigen Minuten ein Mann, ein Schwarz-Afrikaner. Etwas irritiert schaut er herüber zu meinem Kerzen-Tisch und durchquert den Raum, den Blick weiterhin auf mich gerichtet. Ihm folgt alsbald eine andere junge Frau auch eine Ausländerin, wie es scheint. Sie grüßt nicht, schaut nicht herüber, nimmt keine Notiz von mir.

Nun kommt ein kleiner Mann hereingetrippelt, erblickt mich und meine Kerzen und kommt geradewegs an meinen Tisch: „Wo kommen Sie denn her?“, fragt er mich. Offenbar hat man weder ihn noch die anderen von meiner Sonder-Erlaubnis und meinem einsamen Besuch unterrichtet. Kein Wunder, daß meine Präsenz diese Geister des Morgen-Grauens verwirrt.

„Wieso haben Sie denn neun Kerzen auf Ihrem Tisch, und nicht sieben?“ Ich stutze. Worauf will er hinaus? Aber ohne meine Antwort abzuwarten, mit einem kurzen Blick auf meinen Kalender, fügt er hinzu: „Jetzt beginnt ein neues Jahr – im hebräischen Kalender.“ Dann geht er weg. Aber ich habe sie gesehen: die tätowierte Nummer auf seinem linken Arm. Zum zweitenmal in dieser Nacht sitze ich erstarrt. Ich muß ihn fragen, wenn er zurückkommt. Aber darf ich ihn fragen?

Es schlägt halb sieben. Draußen ist es hell geworden; Tageslicht fällt schmutzig durch die Fensterschächte. Wieder kommen Schritte durch die Halle – eine Schwarz-Afrikanerin. Auch sie mustert meinen Kerzentisch und mich erstaunt. Ich warte auf den kleinen Mann, aber nicht er kommt zurück, sondern zwei von den Frauen. Sie schieben ein Putzwägelchen, beladen mit den entsprechenden Utensilien. Hinter ihnen dann der kleine Mann. Ich nehme das Gespräch von vorhin wieder auf. Es ist so. Er ist Jude. Die Nummer auf seinem Arm stammt aus Auschwitz. Als Schüler wurde er verhaftet, 1945 befreit. Jetzt ist er siebzig. Von seinen 700 Mark Rente kann er nicht leben. Seit zehn Jahren arbeitet er nun schon im Bremer Ratskeller. – Während des Golfkrieges sagte ein Arbeitskollege in seinem Beisein, jetzt werde endlich der Rest vergast. Niemand, berichtet der kleine Mann, habe etwas dazu gesagt. Mit seinen kleinen Schritten geht er hinüber in die Große Halle.

Ich räumte meine Sachen zusammen, löschte die Kerzen und stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf. Die Sonne schien; ich mußte blinzeln. Erleichtert und versonnen grüßte ich hinauf zur roten Nase des Weltgeists. Die Straßen und Plätze waren menschenleer. Behutsam suchte ich meinen Heimweg. Da und dort blieb ich einen Moment stehen, bis sich der Bürgersteig beruhigt hatte. Ich redete begütigend mit Ampeln und Verkehrszeichen, wenn sie zu übermütig auf mich zutanzten, und erzählte ihnen von der Lust und Last dieser Nacht.

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