: Mythos Gewalt: Nach uns die Monster?
Jede ältere Generation scheint speziell die Jugend auf dem Kieker zu haben /Stimmt es aber, daß wir es heute mit beispiellos brutalen Kids zu tun haben? Die Sendepause zwischen den 68ern und ihren Kindern ist eklatant ■ Von Reinhard Kahl
Volle Wucht mit dem Auto gegen den Baum. Geht der Airbag beim Aufprall auf oder nicht? Eine Motorzeitung brachte vor Wochen die Story vom allerneuesten Risikospiel der Crash-Kids in Umlauf. Airbagging. RTL und Pro 7 nahmen das Gerücht für bare Münze und inszenierten die Bilder, die sie brauchten. Bild am Sonntag zitierte die TV-Realität. Dem Blatt war die bunte Ente im Sommerloch zwei Seiten wert. Nun ermittelt die Kripo gegen die Reporter aus der Fälscherwerkstatt. Wieviel haben sie den angeblichen Zeugen fürs riskante Spiel gezahlt?
Die Geschichte ist typisch. Sie befriedigt das Bild, das Leser und Zuschauer bereits haben und immer wieder bestätigt finden wollen: Immer mehr Gewalt auf der Straße und auf den Schulhöfen. Kriege der Gangs in den Städten. Nach uns die Monster. Oder? Das Lied vom Alleswirdschlimmer ist nicht nur der Schlager in der Unterhaltungsbranche. Es gibt auch höchst elaborierte Fassungen. Egal, ob in linken Kneipen, feinen Restaurants oder an nebeligen Stammtischen, überall hören wir die kulturpessimistische Melodie.
Und nun kommen zwei Autoren und behaupten, noch nie war die Jugend so friedlich wie heute. Wer das schreibt, muß damit rechnen, für ignorant gehalten zu werden. Lesen Sie denn keine Zeitung? Sehen Sie denn nicht fern? Die Täter werden doch immer jünger und vor allem, sie werden immer brutaler – nicht wahr? Zunehmend häufig kommen die Kids mit Schußwaffen zur Schule. Montags, nach einem medial durchzechten Wochenende, müssen sie im Klassenzimmer erst mal den Fernsehkater auskurieren. Blue Monday selbst im Kindergarten. Und was haben die Kinder gesehen? Morde! Nichts als Gewalt. Das sind die Zeichen der Zeit. Das gab's früher nicht.
Stop! Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter den Tatverdächtigen sank in der Polizeistatistik seit 1984. (In der alten Bundesrepublik). Bei Kindern sank der Anteil um 20 Prozent, bei Jugendlichen sogar um 30 Prozent und selbst bei den Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren ein Minus von 16 Prozent. Steigerungen indessen bei den Erwachsenen. Wir finden solche Zahlen und viele Einsichten in dem klugen Rotbuch von Eberhard Seidel-Pielen und Klaus Farin: „Die Scharfmacher“. Vor einigen Jahren debütierte das Autorenduo mit einem Report über Jugendgangs, „Krieg in den Städten“. Das Buch war ziemlich apokalyptisch. Im vergangenen Jahr veröffentlichten sie in der Beck'schen Reihe eine materialreiche Monographie: „Skinheads“. Das Bild geriet ambivalent. Nur zehn Prozent der Skins, so ergab ihre Recherche, gehören zu den Neonazis, weitere 40 Prozent könnten als rechts eingestuft werden. Die anderen Glatzen, darunter auch antirassistische, tauchen sonst in den Medien nicht auf. Denn sie taugen nicht zum Herstellen eindeutiger Weltbilder.
Das eben erschienene Buch „Die Scharfmacher“ hat selbstreflexive Zwischentöne. Das ist selten. Auch kritische Autoren gehen eher eine symbiotische Haßliebe mit ihren Objekten ein. Das sichert nicht nur ihr Auskommen im arbeitsteiligen Gewerbe, sondern auch die Gewißheit des Urteils und den festen Standpunkt. Wer sich, wie Eberhard Seidel-Pielen und Klaus Farin auf die Realität einläßt, muß die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben und trifft sogar auf unerwartete Verbündete. Zum Beispiel die AG Gruppengewalt bei der Berliner Polizei. Was sagt die? „Unsere Untersuchung führte zu einem Bild von Gewalt an Schulen, das den Darstellungen in den Medien keineswegs entspricht.“ In den Zeitungen steht: „Kopfüber hing der Lehrer aus dem Fenster“, oder „Die Pauker schlagen zurück“, oder „Gewalt und Terror immer schlimmer – Politiker fordern: Polizei auf die Schulhöfe.“
Die Recherchen von Eberhard Seidel-Pielen und Klaus Farin zeigen: Es gibt Gewalt. Aber es gibt eben nicht immer mehr Gewalt. Woher dieser Mythos von der zunehmenden Gewalt? Woher der Mythos vom Immermehr und Alleswirdschlimmer? Das Bild von gewaltversessenen Jugendlichen und brutalen Kindern ist eine jener Projektionen, für die Erwachsene die Kids mißbrauchen: Entweder steht der strahlende Nachwuchs für das Alleswirdbesser. „Die jungen Leute sind so kritisch und offen.“ Sie sollen es mal besser haben. Oder der Nachwuchs verdüstert den Horizont. „Undankbar sind sie.“ Sie sollen sich zum Teufel scheren.
Die Generation, die heute das Sagen hat, rief ja einst: „Trau keinem über 30“. Aus ihrer Parole wurde nun „trau keinem unter 30“ oder besser, trau keinem unter 20, denn die Täter werden ja immer jünger. Nur, wir Erwachsenen, wir werden immer älter und vielleicht ist das ja die Grundierung für das katastrophische Szenario vom Untergang, das den Kids nur eine Komparsenrolle zugesteht. Keine Spur vom Dialog zwischen den Generationen.
Ist also die Hypostasierung von Monsterkids und immer gewalttätigeren Jugendlichen eine Waffe im symbolischen Generationenkampf? Ja. Es ist eine Strategie der Entwertung. Wer erst mal mit dem eindeutigen Stigma der Gewalttätigkeit versehen worden ist, muß nicht mehr ernst genommen werden. Das hat Tradition. Den 68ern wurde ihre unverständliche Sprache vorgeworfen. Der nächsten Generation wurde Sprachlosigkeit attestiert. Und nun werden Sprachstörungen bei den Rebellierenden diagnostiziert. Die Konsequenz ist immer die gleiche: es ist überflüssig, ihnen zuzuhören und die Zeichen ihres Ausdrucks zu entziffern.
Seidel-Pielen und Farin rücken das Jugendbild zurecht. Seit Flower-power und Co. wurde Jugend zur ewigen Jugend stilisiert. Der Abstand zur Realität wuchs. Jetzt haben auch proletarische Jugendliche ihr Recht auf Jugendlichkeit durchgesetzt. Jugend ist kein bürgerlicher Traum mehr, sie wird, so schreiben die Autoren, „wieder zu dem, was sie lebensgeschichtlich immer war: eine Übergangsphase zum Erwachsensein“.
Wer also hat Interesse an der Dämonisierung der Kids? Die Scharfmacher. Die aber, so lehrt das Buch, stehen nicht nur rechts. Insbesondere die Medien sind interessiert, denn sie machen ihren Profit mit Erregungsgewinnen. Gewalt ist ihr liebstes Thema. Entweder stellen sie Gewalt dar oder aber sie entrüsten sich über die Zunahme derselben. Die Heuchler kommen doppelt auf ihre Kosten. Nach der profanen Erregung genießen sie sich moralisch: „Die Welt ist schlecht, aber wir, wir sind gut.“ Und weil uns das gefällt, lesen wir diese Botschaft morgens in der Zeitung und sehen sie abends im Fernsehen.
Aber Medien sind nicht Akteure, sondern eben Medien. Sie sind Verstärker. Sie sind Aggregate, mit denen sich das träge Publikum jene Stiche versetzt, die es braucht, um sich zu spüren. Gewalt ist eine Droge. Sie bringt Stimulierung und Infantilisierung. Die Moral des Mythos von der zunehmenden Gewalt heißt schließlich: „Wir brauchen mehr Staat – allein schaffen wir es nicht.“
Eberhard Seidel-Pielen /Klaus Farin: „Die Scharfmacher“. Rotbuch Verlag, Hamburg 1994, 184 Seiten, 16,90 DM
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