: Kindergeburtstag im Steintor
■ Krawalle nach Punkkonzert: Jugendliche plündern Comet und einen Juwelierladen
Nachdem es an Sylvester relativ ruhig geblieben ist, haben sich die jährlich obligatorischen Viertel-Krawalle diesmal im Sommer abgespielt. In der Nacht zum Samstag war das Steintor staatsfreies Gebiet. Im Anschluß an ein Punkkonzert konnten sich mehr als eine Stunde lang zwischen 150 und 200 Jugendliche rund um den Ziegenmarkt relativ unbehelligt von der Polizei austoben. Dabei wurde die Auslage eines Juweliergeschäftes abgeräumt, und ein Schuhgeschäft büßte einige Waren ein. Am schlimmsten aber traf es den Comet-Markt: Getränke, Zigaretten, Süßwaren, Obst – alles was greifbar war, wurde auf die Straße geschleppt und unter die johlende Mange geworfen. Im Markt selbst hinterließen die PlündererInnen Zerstörung. Das Geschäft mußte am Samstag geschlossen bleiben. Der geschätzte Sachschaden: 200.000 Mark. So oft die Polizei einzugreifen versuchte, so oft mußte sie auch wegen Unterzahl wieder abziehen. „Was machen Sie, wenn Sie nicht verhauen werden wollen?“ sagte dazu Jens Haase, Kommissar vom Dienst, „Sie holen Verstärkung“. Bis die zusammengezogen war, seien die Plünderungen fast schon vorbeigewesen. Fünf Jugendliche und junge Erwachsene wurden vorläufig festgenommen.
Es war eine losgelassene Menge von Kindern und Jugendlichen, die sich in der Nacht zum Samstag ausgetobt hat. Nach Gesprächen mit der Polizei, mit AugenzeugInnen und mit Jugendlichen, die sich an der nächtlichen Selbstbedienungsorgie beteiligt hatten, kristallisiert sich dieses Bild heraus: Gelegenheit macht Plünderer. „Es war halt keiner da, der's verhindert hat“, sagte gestern ein Jugendlicher, der sich auch bei Comet bedient hatte. „Wenn sich schonmal die Gelegenheit ergibt, dann greift man auch zu.“ Da kann auch die Polizei nur mit den Achseln zucken. Niemand hat geahnt, daß ausgerechnet dieses Konzert einen derart explosiven Ausgang haben könnte.
Es war kurz vor Mitternacht, als zum erstenmal ein Streifenwagen vor dem Jugendfreizeitheim in der Friesenstraße auftauchte. Dort hatten drei Hard-Core-Combos gespielt – ein wenig zu lange zu laut, wie einige Nachbarn meinten. Einige der Gäste pöbelten die beiden Beamten so massiv an, daß es denen mulmig wurde. „Macht die Bullen platt“, soll es geheißen haben. Draußen mußten die Polizisten feststellen, daß sämtliche Reifen des Streifenwagens zerstochen worden waren. Das war der Startschuß für die Verlagerung der Party nach draußen.
Eine halbe Stunde verging, bis ein Hubwagen der Polizei auftauchte. Mit ihm kamen weitere Streifenwagen. Unterdessen waren rund fünfzig Menschen vom Freizi zum Ziegenmarkt gezogen. Die neuen Streifenwagen wurden mit Flaschen und Steinen begrüßt, bis auch sie die Flucht ergriffen.
„Richtig losgegangen ist es dann an der Baustelle“, erzählt ein Jugendlicher. Dort hatten einige die ersten Versuche gestartet, Feuer zu legen. „Die haben versucht, den Bagger in Brand zu stecken“, erzählt eine Augenzeugin. Der Wirt einer Kneipe, vor der der Bagger abgestellt ist, habe die Jugendlichen nur knapp davon abbringen können. „Wenn der Bagger explodiert wäre, da wäre nicht viel von dem Haus übrigggeblieben."
Die randalierende Menge war unterdessen auf 150 bis 200 Menschen angewachsen. „Das ganze bunte Volk, das sich um diese Zeit im Steintor aufhält“, sagt Kommissar Haase. Von den paar Junkies vom Ziegenmarkt über Nachtschwärmer aus den umliegenden Kneipen und Discos, mehrheitlich allerdings jugendliche BesucherInnen des Konzertabends. „Was heißt denn hier Jugendliche“, korrigiert eine Frau, die in einer der Kneipen in der Nacht zum Samstag hinter dem Tresen gestanden hat. „Da waren halbe Kinder dabei, so dreizehn, vierzehn Jahre alt.“ Die hat sie beobachtet, als sie mit Steinen und Schirmständern die Panzerglasscheibe des kleinen Juweliergeschäftes Qualitz malträtierten. Ein Augenzeuge: „Die haben bestimmt eine Stunde gebraucht, bis sie durch waren. Das Zeug wegggetragen hat dann aber ein anderer. Der ist seelenruhig mit dem Schmuck vorm Bauch nach hause spaziert.“
Während sich die einen beim Juwelier versuchten, schlugen die anderen eine Scheibe in einem Schuhgeschäft ein, dritte warfen die Scheiben von Comet mit einem Feuerlöscher ein, alle zusammen wehrten die spärlichen Versuch der Polizei ab, die Lage in den Griff zu bekommen. „Die kamen auch erst, als alles zu spät war“, erzählt ein Augenzeuge. Und dahinter vermutet er Kalkül: „Eine Freundin hat im Polizeifunk gehört, daß Polizisten aus Delmenhorst an Goethetheater gestanden haben. Denen haben sie über Funk gesagt, si sollen sich ,langsanm mal auf den Weg' machen. Die haben die Kids sich austoben lassen, damit sie keinen auf die Mürtze kriegen.“
Polizeisprecher Haase widerspricht: „Es dauert eben seine Zeit, bis mitten in der Nacht Verstärkung geholt ist.“ Der Eindruck, die Polizei hätte nicht ernsthaft agiert, der hat sich allerdings in vielen Köpfen festgesetzt: „Ich hab welche beobachtet, die haben Beck's-Kisten aus Comet rausgeschleppt, und als die Polizei dann da war, haben sie sich an den Rand gestellt und gefeixt. Und keinen hat's gekümmert.“ Jochen Grabler
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