Sanssouci: Nachschlag
■ Lesen als Depression und Zeitvertreib im "Collage"
Marcel Reich-Ranicki würde sagen: „Der Mann kann schreiben. Allein, ihm fehlt ein Thema.“ Bei einem Buch, einer kurzen Erzählung zumal, mag das noch durchgehen, da kann man sich an künstlerischem Sprachstil und Formulierungskunst ohne fortschreitende Handlung vielleicht noch erfreuen. In dramatischer Inszenierung des Geschriebenen jedoch: Nein!
Zwei dunkle Studierstuben, eine auf der linken, die andere auf der rechten Seite der Bühne. Auf dem Schreibtisch zur Rechten stehen ein elektrisches Lämpchen und eine alte Schreibmaschine. Von hier aus bedenkt der Chirurg Severin von Klamm die Welt, seine Welt des Jahres 1917. Links derselbe Schreibtisch, nur dieser von Kerzen flackernd erleuchtet. Tintenfaß und Federkiel, Arbeitsplatz des Redakteurs Friedrich Würz, der hundert Jahre früher lebt(e). Die beiden schreiben sich. Auf wunderbare Weise können sie sich mit Hilfe ihres Arbeitspultes Briefe durch die Zeit senden, gegen die Zeit, ohne sie. Das geht so eine Weile hin, nach anfänglichem beiderseitigen Unglauben folgen ausführliche Beschreibungen der eigenen Zeit, und hierin und vor allem im Nachbilden sprachlicher Eigenheiten der jeweiligen Epoche, in der die Briefeschreiber leben, ist Sönke Lars Neuwöhner, der Autor dieses Stücks, meisterhaft. Doch geht das alles eben nicht über den Gehalt einer „Enzyklopädie“, das heißt eines lexikalischen Referats, hinaus, und man fragt sich bald – wozu? Die Briefpartner versichern sich zu Beginn ihres Austauschs, daß sie nichts weiter als ihren Geist riskierten. Doch riskieren sie eben diesen leider nicht. Vom Wahnsinn weiß das Stück ebensowenig wie von dramatischem Aufbau oder Spannungsbogen. Soviel Ende war nie? Der Titel ist eine Anmaßung, die in keiner Weise erfüllt wird. Es wird nicht einmal deutlich, mit welcher Begründung solch großartige Ankündigung gewählt wurde. Denn tatsächlich passiert dramaturgisch nichts anderes, als daß zwei Schauspieler (Sven S. Poser und der Autor Sönke Neuwöhner) am Schreibpult sitzend sich gegenseitig ihre Texte vorlesen (sie lesen tatsächlich anderthalb Stunden lang vom Blatt) und bei besonders gelungenen Formulierungen beifallheischend ins Publikum blicken. Am Ende entscheidet sich Friedrich Würz aufgrund der Aussichtslosigkeit seines Strebens recht überraschend für den Freitod. Eine Pointe, mehr nicht.
Dabei hätten in dem Stoff, auch wenn nicht gerade neu, dramatische Möglichkeiten gelegen, doch hatte man den Eindruck, der Autor erfreue sich so an seiner Formulierungskunst (die wirklich bewundernswert ist), daß er auf anderes gar keinen Wert mehr legte. Daß dann allerdings ein guter Teil des Publikums (meine Nachbarn zum Beispiel) nach einiger Zeit einnickte, muß man dann in Kauf nehmen. Volker Weidermann
Soviel Ende war nie – Enzyplopädie der Zeit II, 10., 11., 12. August, jeweils 22 Uhr. „Die Collage“, Brunnenstraße 192, Mitte.
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